© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

Dringender Handlungsbedarf
Globales Bevölkerungswachstum gefährdet Fischbestände / Diskussion um Rohstoffgewinnung und Meeresumweltschutz
Dieter Menke

Wer derzeit naturwissenschaftliche Zeitschriften liest, gewinnt den Eindruck, in der Forschung dreht sich heute alles um den Klimawandel. In der Meeresforschung, wo Klimaprobleme bislang tatsächlich die Hauptaufmerksamkeit von Wissenschaftlern genießen und das Gros ihrer Projekte antreiben, zeichnet sich mit der Bevölkerungsexplosion ein anderer, womöglich bald mächtigerer Beweger ihrer methodisch kontrollierten Neugier ab.

Das globale Wachstum der Bevölkerung, primär aufgrund rasant steigender afrikanischer und vorderasiatischer Geburtenraten, dürfte die Weltmeere bis zum Ende des 21. Jahrhunderts mehr belasten als die prognostizierte Erwärmung der Erdatmosphäre. Als Vorboten dieser bedrohlichen Entwicklung hat schon der „Grenzen des Wachstums“ aufzeigende Report des Club of Rome von 1972 die Überfischung und die Vermüllung der Ozeane registriert.

Förderung bergbaulicher Vorhaben am Tiefseeboden

Ihr Zustand hat sich seitdem weiter dramatisch verschlechtert, weil jede Bevölkerungszunahme zu verschärfter Ressourcenausbeutung führte, zu erhöhter Abfall-, Abwässer- und Verkehrsbelastung, zu Eutrophierung und Versauerung großer Meeresareale. Als Antwort auf solche ökologischen Alarmmeldungen ist seit den 1980ern das internationale Meeresumweltschutzrecht entstanden, um für alle 193 Staaten der Erde verbindliche Spielregeln „nachhaltiger Nutzung“ zu fixieren.

Obwohl die „Dynamik“ auf diesem Rechtsgebiet, wie die Umweltjuristen Till Markus (Universität Bremen) und Harald Ginzky (Umweltbundesamt UBA) erfreut feststellen, bewirkte, daß das Normengeflecht zum Schutz der Meere immer engmaschiger geknüpft worden sei, hätten die Völkerrechtler nicht Schritt halten können mit dem globalen Bevölkerungswachstum, das auch immer rücksichtslosere Zugriffe auf Meeresressourcen erzwinge. Das Schutznetz weise gewaltige Löcher auf, wie ein von Markus und Ginzky konzipiertes Themenheft der Zeitschrift für Umweltrecht (6/17) mit Beiträgen über den Tiefseebergbau, die EU-Meeresstrategie, den Schutz mariner Biodiversität jenseits der Grenzen nationaler Hoheitsgewalt und die Bekämpfung illegaler Fischerei dokumentiert.

Am unübersichtlichsten ist derzeit die von Ginzky und Hans-Peter Damian (UBA) ausführlich beschriebene Lage beim Tiefseebergbau. Das UN-Seerechtsübereinkommen von 1982 öffnet zwar den Weg zur Förderung bergbaulicher Vorhaben am Tiefseeboden, verlangt jedoch den effektiven Schutz der Meeresumwelt, den die Regelungen der Internationalen Meeresbodenbehörde (ISF) gewährleisten sollen. Über zwei 2016 präsentierte Entwürfe eines Rahmenregelwerkes für Ausbeutungsvorhaben sowie für allgemeine Umweltregularien ist die ISF bisher allerdings nicht hinausgekommen.

Weil Eile eigentlich nicht geboten schien, denn die so kostspielige wie langwierige Prospektion mineralischer Vorkommen in bis zu 6.000 Meter Tiefe begann vor 30 Jahren und dauert an, begleitet von politischen Träumen, der Tiefseebergbau werde zur „Ausrottung der Armut weltweit“ beitragen. Seit 2001 vergab die ISF aber gerade einmal 26 Lizenzen, alle nur auf die Erkundung von Manganknollen, Mangankrusten und Massivsulfiden gerichtet. Auch die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) ist dabei mit von der Partie. Die Marine Rohstofferkundung der BGR erkundet seit 2006 Lizenzgebiete im östlichen Pazifik und im südwestlichen Indischen Ozean (JF 41/16).

Obwohl hohe technische Hürden wohl noch in der nächsten Dekade industrieller Förderung entgegenstehen, forciert der globale Ressourcenhunger den Druck auf die ISF, endlich Lizenzen für den Abbau mariner metallischer Rohstoffe zu erteilen. Was für Ginzky und Damian in einem ökologischen Desaster enden dürfte. Lassen doch die wenigen, von Südkorea aus durchgeführte Tests unerträgliche Umweltschäden durch bis zu 800 Tonnen Sedimenteinträge pro Stunde erwarten.

Geradezu besorgniserregend sei zudem der unbefriedigende Forschungsstand, der keinerlei Einschätzung konkreter Umweltfolgen des Tiefseebergbaus gestatte, da die genaue Verbreitung eventuell bedrohter mariner Arten unbekannt sei, weil man in 4.000 bis 6.000 Metern Tiefe nicht hinreichende Mengen von Proben nehmen könne. Deshalb wisse man bisher nur, daß die Tiefsee­ebenen „extrem artenreich“ seien, könne freilich nicht angeben, wie sich die natürliche Artenzusammensetzung der mit Manganknollen assoziierten Mikrohabitate darstelle.

Eben deshalb lasse sich nicht sagen, wie viele Jahrzehnte – oder wahrscheinlicher: Jahrhunderte – die Wiederbesiedlung ausgebeuteter Knollenfelder benötige. Ungeachtet solcher Wissenslücken über die Biologie des Tiefseebodens plädieren die Umweltjuristen dafür, Abbaulizenzen zu vergeben. Nicht jedoch auf der Basis der ISF-Entwürfe, die Firmen nicht verpflichten, ihre Umweltschutzmaßnahmen während der Ausbeutung erzielten neuen Erkenntnissen über deren schädliche Folgen anzupassen – bis zur Stillegung des Betriebs.

Völkerrechtlicher Paradigmenwechsel?

Im Vergleich zu den ISF-Entwürfen schuf die EU-Bürokratie mit der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie von 2008 ein fast perfektes Regelwerk, um Nord- und Ostsee sowie das Mittelmeer in einen „guten Umweltzustand“ zu versetzen. Die Crux sei nur, wie Andrea Weiß (UBA) kritisiert, das Umsetzungsdefizit. Eine deutsche Bewertung wichtiger Ökosysteme an Nord- und Ostsee (2012) klinge folglich ernüchternd, da sie den meisten Lebensräumen und Arten eben keinen „guten Zustand“ attestiere, nicht zuletzt wegen unvermindert hoher Einträge von Nähr- und Schadstoffen aus Landwirtschaft, Industrie und Haushalten. Die EU-Kommission mußte jüngst sogar eingestehen, daß es „derzeit keine gemeinsamen oder vergleichbaren Ziele der Mitgliedstaaten in den Meeresregionen“ gebe.

Ähnlich kraß kontrastieren Anspruch und Wirklichkeit bei den internationalen Bemühungen zum Schutz mariner Biodiversität jenseits nationaler Hoheitsgrenzen, immerhin 40 Prozent der globalen Meeresfläche. Hier bestehe nur ein „fragmentiertes Regime“, das weder Schutz noch nachhaltige Nutzung garantiere. Wenn auch der Verhandlungsprozeß darüber bei den UN angelaufen ist, werde ein Abkommen Jahre auf sich warten lassen.

Um das Milliardengeschäft der illegalen Fischerei einzudämmen, bedarf es gleichfalls besserer Normen, wie der Trierer Völkerrechtler Valentin J. Schatz vorschlägt. Da die am meisten davon betroffenen armen Küstenländer des globalen Südens die Fangflotten des Nordens mangels polizeilicher und militärischer Kapazitäten nicht stoppen können, sollte den Staaten, deren Flagge die Fischräuber führen, eine Überwachungs- und letztlich Haftpflicht auferlegt werden, um einen völkerrechtlichen Paradigmenwechsel zum Schutz „verbliebener Meeresressourcen“ einzuleiten. Dringender Handlungsbedarf „im Lichte abnehmender Fischbestände“ bestehe jedenfalls.

Marine Rohstofferkundung der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR): www.bgr.bund.de