© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Obergrenze light
Einigung: CDU und CSU gehen mit einem Formelkompromiß in der Asylpolitik in die anstehenden Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition
Paul Rosen

Der Stich ins Herz der CSU kam aus Brüssel und bestand aus einem Satz: „Wir sehen es als extrem positiv an, daß ein Land, das bereits mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen hat, sich jetzt bereit zeigt, weitere 200.000 Personen pro Jahr willkommen zu heißen“, ließ EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zum Ergebnis des Unionsgipfels am Sonntag erklären. Genau diesen Eindruck hatten die CSU und ihr Chef Horst Seehofer vermeiden und mit verschwurbelten Formulierungen die Botschaft verbreiten wollen, mit bayerischer Löwenstärke die geforderte „Obergrenze“ beim Ausländerzuzug durchgesetzt zu haben. 

Lautstark empörte sich CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer über die „böswillige Falschinterpretation“ aus Brüssel. Doch Juncker lag nicht daneben. CDU und CSU wollen mit dem „klassischen Kompromiß“ (Kanzlerin Angela Merkel) in die am 18. Oktober startenden Gespräche mit FDP und Grünen gehen. In dem Beschluß heißt es: „Wir wollen erreichen, daß die Gesamtzahl der Aufnahmen aus humanitären Gründen (Flüchtlinge und Asylbewerber, subsidiär Geschützte, Familiennachzug, Relocation und Resettlement, abzüglich Rückführungen und freiwillige Ausreisen künftiger Flüchtlinge) die Zahl von 200.000 Menschen im Jahr nicht übersteigt.“ Sollte die Zahl höher ausfallen, soll der Bundestag zustimmen müssen.

Die Tore bleiben weiterhin geöffnet

 In einer Pressekonferenz betonte Merkel, es sei gewährleistet, daß auch der erste Flüchtling über der Marke von 200.000 ein „ordentliches Verfahren“ bekomme. Das bedeutet: Egal wie viele an den deutschen Grenzen erscheinen, alle werden hineingelassen, obwohl es sich bei den Nachbarländern um sichere Staaten handelt und keine Verpflichtung besteht, die Tore zu öffnen. Zudem soll die Abwanderung wieder durch Neuzuzüge ausgeglichen werden. 

Mit demonstrativen Gesten versuchten junge CSU-Politiker, den Kompromiß zu feiern und wie einen Wackelpudding an die Wand zu nageln. Scheuer und der neue Landesgruppenvorsitzende Alexander Dobrindt wurden beim Verlassen der CDU-Zentrale gesehen, wie sie einander strahlend abklatschten, als hätten sie ein Fußballspiel gewonnen. Dobrindt plusterte sich auf: „Das ist kein Kompromißangebot, das ist unsere Position, die nicht verhandelbar ist.“ Daß das Wort Obergrenze in dem Beschluß fehlt, störte Seehofer nicht: Entscheidend sei der materielle Gehalt des Beschlusses. 

Seehofer verschwieg, daß er in Wirklichkeit nur einen schwammigen Beschluß in der Hand hat und seine zehn Thesen, mit denen er nach Berlin kam, um die rechte Flanke zu schließen, unverrichteter Dinge wieder mit nach Hause nehmen mußte: Die CDU weigerte sich, über die von Seehofer geforderte „bürgerlich-konservative Erneuerung“ zu sprechen.

 Mit einer weichen Position gehen die Unionsschwestern jetzt in die Sondierungs- und Koalitionsgespräche. „Der eigentlich schwere Brocken kommt jetzt noch. Das ist nämlich die Frage mit den Grünen“, erklärte der bayerische Finanzminister Markus Söder, der Seehofer lieber heute als morgen beerben möchte und von Vertrauten den Rücktritt von Seehofer fordern läßt. 

FDP und Grüne glauben nicht an Begrenzung

Die potentiellen Jamaika-Partner glauben nicht, daß der Unionsbeschluß unverändert Bestandteil des Koalitionsvertrages wird. Dieser werde nur eine kurze Halbwertszeit haben, spottete FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki. „Ich bin gespannt, wie sie uns das erklären“, unkte Grünen-Chef Cem Özdemir. Der Beschluß mit seiner Vielzahl von Spiegelstrichen und Relativierungen wäre in Koalitionsverhandlungen leicht abänderbar, ohne daß die ganze Tragweite sofort auffallen würde. Das wissen alle Beteiligten, die deshalb auch recht gelassen in die Gespräche gehen.

 Die Pressekonferenz der beiden Unionsvorsitzenden warf ein Schlaglicht auf den Zustand von CDU und CSU: Sieger sehen anders aus. Sowohl Seehofer als auch Merkel erweckten den Eindruck, daß sie ihre politische Zukunft hinter sich haben. Vor diesem Hintergrund bekommt Merkels Antwort auf die Frage, warum der Kompromiß nicht schneller gefunden worden sei, einen viel tieferen Sinn: „Alles hat seine Zeit.“  

Peter Gauweiler appellierte bereits: „Horst, es ist Zeit.“ Das gilt genauso für Merkel, durch deren Zeitfenster nach dieser Wahlniederlage keine volle Legislaturperiode mehr paßt.