© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Sturmwarnung Rot-Rot-Grün
Reportage aus Niedersachsen vor der Landtagswahl: Aus dem Lustspiel an der Leine wurde für die CDU unerwartet ein Krimi
Hinrich Rohbohm

Pfeifender Wind, umherfliegende Blätter, bedrohliches Knirschen der Äste in den Bäumen. Das Land Niedersachsen erlebt in diesen Tagen im wahrsten Sinne des Wortes stürmische Tage. Kaum ist die Bundestagswahl gelaufen, steht am kommenden Wochenende die Wahl zum Niedersächsischen Landtag an. Wird die CDU sie gewinnen, könnte das auch Angela Merkel in Berlin vorläufig etwas Luft gegenüber ihren innerparteilichen Kritikern verschaffen. Andernfalls würde es die Diskussion über den Kurs der CDU-Spitze weiter verschärfen.

Inzwischen hat sich Regen zum ungemütlichen Wind gesellt, der durch Hannovers Innenstadt rauscht. Passanten eilen über den Kröpcke, einen normalerweise noch weitaus belebteren zentralen Platz in der Fußgängerzone. Nur wenige haben einen Blick für die zahlreich aufgehängten Wahlplakate übrig.

Die SPD klingt hier bodenständig

Ein älteres Ehepaar schaut sich das Plakat der SPD dennoch etwas genauer an. „Na, den Spruch hätten sie ja besser nicht wählen können“, sagt die Frau schließlich zu ihrem Mann. „Stephan Weil. Sturmfest und stark“, steht da drauf. Und tatsächlich trotzt das aus Pappe angefertigte Werbemittel den orkanartigen Böen. Sturmfest. Das Wort mag von den sozialdemokratischen Wahlstrategen vielleicht sogar mit einer kleinen Anspielung auf die heimliche Hymne des Landes gewählt worden sein. „Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen“, heißt es da.

Das klingt bodenständig, konservativ. Eigentlich klingt es nach CDU. Zumindest nach der CDU eines Wilfried Hasselmann, der die Niedersachsen-Union über Jahrzehnte als Landesvorsitzender führte und der ihr mit einem dezidiert konservativen Kurs zu ihren größten Wahlerfolgen verholfen hatte.

Worte, die 100 Kilometer nordöstlich von Hannover ein etwa 60 Jahre alter SPD-Wahlhelfer wiederholt. Der hängt in der Fußgängerzone von Uelzen, einer Kleinstadt nahe der Lüneburger Heide, Plakate auf. „Als SPD müssen wir wieder bodenständiger werden.“ „Voll motiviert“ sei er einen Tag nach der „verlorenen Bundestagswahl“ in den Landtagswahlkampf gegangen. „Endlich ist Schluß mit diesen faulen Kompromissen, die Opposition wird uns guttun. Das werden wir als SPD schon am 15. Oktober im positiven Sinne vom Wähler zu spüren bekommen.“ Wenn es für Rot-Rot-Grün reiche, „dann sollen die das auch machen, dann hat es der Wähler so gewollt“.

Daß Rot-Rot-Grün für die niedersächsischen Sozialdemokraten durchaus eine reale Option ist, verdeutlichte kein Geringerer als ihr Ministerpräsident Stephan Weil. „Außer der AfD schließe ich nichts aus“, sagt der Regierungschef derzeit auf den Wahlkampfveranstaltungen seiner Partei zu möglichen Regierungskoalitionen. Will heißen: Einem möglichen rot-rot-grünen Bündnis steht auch er offen gegenüber.

Ein Bündnis, vor dem die CDU in Niedersachsen ihre Wähler aktuell eindringlich warnt. „Alarmstufe Rot-Rot-Grün“ titelt sie derzeit in ihren Anschreiben an die Wähler. Gleichzeitig hofft sie auf einen ähnlichen Mobilisierungseffekt, wie er vor einem halben Jahr im Saarland entstanden war, als die SPD die Katze aus dem Sack gelassen hatte und sich offen für eine Koalition mit den SED-Erben aussprach.

Unzufrieden wegen ständig ausfallenden Unterrichts

„Das wird eine Richtungswahl. Wenn es ganz schlecht läuft, droht uns hier Rot-Rot-Grün“, erklärt ein CDU-Funktionär auf einer Informationsveranstaltung der Familienunternehmer in Hannover gegenüber der JF. Der Interessenverband hat Bernd Althusmann eingeladen, Spitzenkandidat der CDU Niedersachsen. Für den gelernten Pädagogen und ehemaligen Offizier bei der Panzertruppe der Bundeswehr ist es ein Heimspiel, die Unternehmer stehen ihm zumeist wohlwollend gegenüber. „Aber so richtig mitgenommen fühle ich mich von ihm nicht, wenngleich ich seine sachliche Art sehr schätze“, erzählt einer von ihnen im Anschluß an die Veranstaltung.

Vor zwei Monaten noch schien es fast schon ausgemacht, daß er der neue Ministerpräsident des Landes werden wird. Dabei sollte in dem Flächenland eigentlich erst zu Beginn des nächsten Jahres gewählt werden. Zu einem Zeitpunkt also, bei dem eine wiedergewählte Kanzlerin höchstwahrscheinlich ihren Wählern erklären müßte, warum die Steuern doch nicht gesenkt, der Familiennachzug von Migranten nicht ausgesetzt, die Grenzen nun doch nicht mehr weiter kontrolliert werden können und die Eurokrise irgendwie wohl auch noch nicht vorüber ist.

„Das hätte uns als CDU in Nieder­sachsen hart getroffen“, räumt ein CDU-Ortsvorsitzender ein. Doch die ehemalige grüne Landtagsabgeordnete Elke Twesten hatte mit ihrem Wechsel zur CDU am 4. August dieses Jahres die Mehrheitsverhältnisse in Niedersachsen grundlegend verändert. Schließlich verfügte die rot-grüne Landesregierung im Landtag von Hannover über lediglich eine Stimme mehr als die schwarz-gelbe Opposition.

Für die CDU kündigte sich damit fast so etwas wie ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk an. „Da fahren wir noch schön im Windschatten der Bundestagswahl“, hatten nicht wenige Unionsfunktionäre kurz nach Bekanntgabe des neuen Wahltermins gehofft. Die meisten Christdemokraten waren da noch von einem deutlichen Wahlsieg Angela Merkels ausgegangen, der der Union bei einer schnell darauffolgenden Landtagswahl zusätzlichen Schub hätte geben können.

Motivation gab es zu diesem Zeitpunkt ohnehin reichlich. Die Umfrage­institute sahen die CDU bei 40 Prozent – zehn Prozent vor der regierenden SPD. Deren Ministerpräsident Stephan Weil war nicht nur durch den Mehrheitsverlust im Landtag angezählt. Weil er seine Regierungserklärung zur Dieselkrise zuvor erst dem VW-Konzern vorgelegt hatte, mußte sich der Regierungschef den Vorwurf der Beeinflussung durch das Unternehmen gefallen lassen. Denn in seiner Eigenschaft als niedersächsischer Ministerpräsident gehört Weil auch dem Aufsichtsrat von Volkswagen an.

„Das ist ein absolutes Unding. Und das von einem Sozialdemokraten“, schimpft Marc, ein 37 Jahre alter Bauingenieur aus Gifhorn, der bei der Landtagswahl vor vier Jahren noch der SPD seine Stimme gegeben hatte. „Die bekommen sie jetzt nicht wieder“, ist er fest entschlossen.

Auch die schlechte Unterrichtsversorgung sorgt im Land für Unmut. „Da hat es sich die SPD mit vielen Eltern verscherzt“, meint eine junge Mutter aus Hildesheim gegenüber der JF, die von einem „akuten Lehrermangel“ an der Grundschule ihrer beiden Söhne berichtet. „Immer wieder fallen bei meinen Kindern Stunden aus. Die freuen sich dann zwar, aber sie haben später Nachteile.“ So sei es jedenfalls kein Wunder, wenn Kinder in Bayern weiter seien als in Niedersachsen, klagt sie. Besonders dramatisch ist die Situation an den berufsbildenden Schulen, wo die Unterrichtsversorgung landesweit gerade einmal bei 88,1 Prozent liegt.

Bernd Althusmann verspricht im Wahlkampf Abhilfe, will eine Unterrichtsversorgung von mehr als 100 Prozent erzielen, sollte er nach dem 15. Oktober neuer Regierungschef werden. Und auch die Polizei könnte auf Verstärkung hoffen. 3.000 zusätzliche Stellen möchte der CDU-Spitzenkandidat schaffen.

Es lief gut für die Union. Doch dann kam plötzlich alles anders. Die CDU/CSU verlor bei der Bundestagswahl fast neun Prozentpunkte, kommt jetzt gerade mal noch auf 32,9 Prozent. Es waren die höchsten Verluste, die die Union jemals bei einer Bundestagswahl eingefahren hatte. Das schlechteste Ergebnis seit 1949. Der erhoffte Rückenwind aus Berlin entwickelte sich zu einer steifen Brise, die der Niedersachsen-CDU nun ins Gesicht bläst. Nun muß sie sich mit dem „sturmfesten“ Sozialdemokraten Stephan Weil ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern.

In den Tagen nach der Bundestagswahl sind die Umfragewerte für die Union rapide gesunken, das Rennen um die Macht im Land ist inzwischen vollkommen offen.

Jamaika-Option kommt an der CDU-Basis nicht gut an

Zünglein an der Wage könnten jetzt ausgerechnet die Parteien an den politischen Rändern sein. Die Linkspartei sehen die Demoskopen bei fünf Prozent, ihr Einzug in den Landtag ist ungewiß. Sollte sie scheitern, hätte sich Rot-Rot-Grün automatisch erledigt.

Aber auch das Abschneiden der AfD kann über Sieg oder Niederlage der großen Parteien entscheiden. Die jüngsten Wahlen zeigen: Der neue politische Mitspieler, der erneut in hohem Maße mit Diebstahl und Beschädigungen seiner Wahlplakate zu kämpfen hat, verbuchte besonders im traditionell sozialdemokratischen Arbeitermilieu starke Zuwächse. Andererseits hatte die Union bei der Bundestagswahl über eine Million Stimmen an die AfD verloren: bürgerliche Wähler, die vom Linkskurs der Partei enttäuscht sind.

„Ich hätte mir da jetzt auch mal ein ‘Wir haben verstanden’ von Herrn Alt­husmann gewünscht“, sagt ein traditioneller CDU-Wähler aus dessen Wahlkreis in Seevetal. Das „Ausgrenzen der AfD“ und gleichzeitige „Anbiedern bei den Grünen“ werde der neuen Partei „erst recht“ Stimmen aus dem Unionslager bescheren, wenngleich bei weitem nicht in den Größenordnungen wie in den neuen Ländern geschehen.

„Wir haben den Menschen nicht vermitteln können, was unter unserer Verantwortung in Deutschland alles geleistet wurde“,  versucht Althusmann unterdessen den Familienunternehmern in Hannover die Wahlniederlage der Union bei der Bundestagswahl zu erklären. Es sei durchaus eine Denkzettel-Wahl für die Große Koalition gewesen. „Vielleicht ist Jamaika ja gar nicht so schlecht“, frohlockt der ehemalige Kultusminister. Betretenes Schweigen im Saal. Jamaika klingt für manchen Unionswähler dann doch mehr nach Joints, Reggae und Rastalocken als nach sturmfest und erdverwachsen.

Zudem hatte die Union noch wenige Wochen zuvor ein Bündnis mit den Grünen abgelehnt. „Die Grünen in Niedersachsen sind der Landesverband, der bundesweit am weitesten links steht“, hatte CDU-Generalsekretär Ulf Thiele da noch verkündet. Eine Zusammenarbeit sei auch deshalb „fast unmöglich“, weil auf der Landesliste der Grünen „fast nur noch Fundis“ stünden.

An der CDU-Basis macht sich bereits erster Unmut darüber breit. „Wenn wir jetzt auch in Niedersachsen Jamaika machen, trete ich aus“, sagt ein langjähriger CDU-Kommunalpolitiker der JF. „Das wird uns Stimmen kosten“, ist er sich sicher. Ob die Union wieder mehr Kampfgeist und Prinzipientreue wie zu Hasselmanns Zeiten braucht, könne er nicht beantworten. „Man kann das nicht vergleichen, die politischen Verhältnisse sind heute andere als damals.“ Aber: „Wilfried hätte niemals einer Koalition mit den Grünen zugestimmt.“