© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Wachsende Abhängigkeit von „Made in China/India“
Gesundheitswesen: Bei Antibiotika, Impfstoffen, Krebs- und Narkosemitteln gibt es Lieferprobleme / Fusionen in der Pharmaindustrie verringern Alternativen
Jörg Schierholz

Im Herbst empfehlen Hausärzte und Krankenkassen eine Grippeschutzimpfung, aber seit 2012 kommt es hier immer wieder zu Lieferengpässen. Auch bei Impfstoffen gegen Keuchhusten, Kinderlähmung (Poliomyelitis), Typhus oder Tollwut wurden vom zuständigen Paul-Ehrlich-Institut (PEI) Lieferengpässe gemeldet. Bestimmte Tetanus- und Hepatitis-Impfstoffe sind nicht lieferbar: „Soweit möglich, sollte die Immunisierung gegen Hepatitis A auf einen späteren Termin verschoben werden“, empfahl die Ständige Impfkommission (Stiko) am Robert-Koch-Institut (RKI).

Metronidazol, ein Antibiotikum gegen lebensbedrohliche Infektionen, war vor kurzem nicht mehr lieferbar, da der Hersteller des Wirkstoffs ausgefallen sei. Gleich danach ging Piperacillin, ein lebensrettendes Antibiotikum für die Intensivmedizin, aus. Allein von Oktober 2015 bis Dezember 2016 wurden dem PEI 74 Fälle von Lieferengpässen gemeldet. Inzwischen wurden auch Narkosemittel, einige Zytostatika und das 60 Jahre alte Bepanthen von Bayer knapp.

Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Im Gegensatz zu den steigenden Preisen für innovative Substanzen stehen Generika – Nachahmerprodukte ohne Patentschutz wie die meisten Antibiotika – unter enormem Kostendruck. Durch das Feilschen der Hersteller mit den Krankenkassen um Cent-Beträge pro Tagestherapiedosis als auch aufgrund von Konzentrationsprozessen in der Generika-Industrie (Stada/Biotest, JF 17/17) wurden über die letzten Jahre toxische Rahmenbedingungen geschaffen, welche das Produktions- und Liefersystem wichtiger Arzneimittel für Störungen immer anfälliger machen.

Bei dem lebensnotwendigen Piperacillin beispielsweise verblieben nur noch zwei große Wirkstoffhersteller in China, die nahezu den Weltbedarf decken. „Die Antibiotikaversorgung in Deutschland hängt de facto am Tropf von China“, erklärte der Verband Pro Generika basierend auf einer Roland-Berger-Studie. Ein weiterer Grund: in Deutschland wurde die synthetische Herstellung von Standardpharmaka weitgehend aufgegeben und nach China oder Indien verlagert.

Die Lieferengpässe betreffen häufig Rabattvertragsarzneimittel, das wichtigste Sparinstrument der deutschen Versorgungslandschaft, über die der Generikamarkt mit den Kassen – neben Festbeträgen und den Regelungen zur Zuzahlungsfreistellung – vertraglich geregelt ist. Liefern darf nur der billigste Anbieter. Die Rabattverträge für die Hersteller sehen Vertragsstrafen vor, wenn es Lieferprobleme gibt.

Die Situation kann für den Patienten gefährlich werden

Schadensersatzforderungen kommen noch dazu – das wird für die Firmen unkalkulierbar, und bei manchen Krankenkassen wurde das als zusätzliches Einkommensmodell erkannt. Das wiederum verstärkt die Konsolidierung der Wirkstoffanbieter und reduziert deren Anzahl. Wegen der kontinuierlich vorgenommenen Portfoliobereinigungen bieten viele große Arzneimittelhersteller nicht mehr die volle Bandbreite von bewährten Wirkstoffen an. Dies gilt besonders für Arzneimittel mit komplexer Herstellung.

Im Sommer letzten Jahres stand nur noch ein einziger Impfstoff gegen Poliomyelitis im Kinder- und Erwachsenenalter zur Verfügung. Auch Kombinations­impfstoffe gegen Tetanus, Diphtherie und Keuchhusten waren nur sporadisch lieferbar, denn in der Pharmabranche gibt es attraktivere Produkte mit höheren Gewinnmargen. Deshalb werden Impfstoffe weltweit nur von wenigen, Spezialherstellern produziert. Die Impfstoffbestandteile werden an unterschiedlichen Standorten gefertigt und geprüft und die Abfüllung an anderen, günstigeren Standorten durchgeführt. Das ist ähnlich wie in der Autoindustrie. Fällt nur einer dieser Standorte aus, wird die gesamte Impfstoffproduktion gestoppt.

Weiterhin produzieren die Hersteller aus Rentabilitätsgründen nicht auf Vorrat, sondern präzise abgestimmt auf die regionalen Absätze in den jeweiligen Verkaufsregionen; damit entfällt die Lagerhaltung, und es gibt keine Bevorratung für Notfälle. Die Globalisierung eröffnet den Herstellern zudem preislich attraktivere Absatzmärkte als preissensitive wie Deutschland – auch das schafft hierzulande zusätzliche Versorgungslücken.

Die Politik schiebt in der Öffentlichkeit den Schwarzen Peter vom zuständigen Gesundheitsministerium dem Pharmagroßhandel, der Industrie und den Apothekern zu – ohne daß die objektiven Gründe für die Lieferprobleme nur ansatzweise angegangen werden. Die Situation kann für den Patienten gefährlich werden: Die Impfstoffversorgung kann bei einem Lieferproblem in der Regel nur über wenige Wochen aufrechterhalten werden, bis die Vorräte ausgeschöpft sind und der Großhandel auch unter Einbeziehung des Parallelimports aus dem EU-Ausland nicht mehr ausreichend Impfstoff nachliefern kann.

Die Stiko empfiehlt den Ärzten, in den Apotheken nach Restbeständen zu fragen oder Impfungen zu verschieben, was bei Reisen nach Asien oder Afrika lebensgefährlich ist. Noch führen die Lieferengpässe selten zu Therapieverzögerungen oder schwerwiegenden Therapie-Abbrüchen. Nimmt allerdings der Konzentrationsprozeß in der Pharmaindustrie weiter Fahrt auf, werden Produktionsausfälle und Lieferschwierigkeiten deutlich spürbare Auswirkungen bei schweren Erkrankungen haben, weil dann kein alternativer Hersteller zum Ausweichen mehr zur Verfügung steht.

Stiko-Mitteilungen zum Impfstoffmangel: rki.de