© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Reisen wie zu Victorias Zeiten
Mit dem Postschiff von Kapstadt nach England: Die begehrten Plätze auf der „St. Helena“ sind rar
Elke Lau

Diese Seereise mit der „St. Helena“ ist heiß begehrt und dauert achtundzwanzig Tage. Nur in Ausnahmefällen ist es möglich, eine Koje zu buchen, denn die Kabinen sind Inselbewohnern vorbehalten, die ihre Verwandten in England besuchen möchten. Wir durften schon einmal diese Route mitfahren und sind nun überglücklich, daß uns diese Chance ein zweites Mal geboten wird.

Gewöhnlich fährt das Schiff den Kurs Kapstadt – St. Helena – Ascension – St. Helena – Kapstadt, selten auch nach  Tristan da Cunha. Zweimal im Jahr wird Portland/Großbritannien angesteuert. Die alte Route wird seit den Kolonialzeiten bedient.

 Das „Royal-Mail-Schiff St. Helena“ ist ein Cargo-Passenger-Liner in Diensten des „Government of St. Helena“, finanziert von Großbritannien: 1990 erbaut und 105 Meter lang. Es hat Platz für 158 Passagiere, 56 Crewmitglieder und 100 Container.

Am Morgen der Einschiffung herrscht in Kapstadt dichter Nebel. Boje und Horn heulen in kurzen Abständen, die Silhouetten passierender Schiffe wirken im Dunst wie fahrende Hochhaussiedlungen.

Die Szenerie, die uns im Hafen erwartet, ähnelt eher einem brasilianischen Volksfest als einer britisch angehauchten Seereise. Über hundert, meist dunkelhäutige Passagiere – die Saints haben ihre Wurzeln überwiegend in Südamerika, Afrika oder China – werden von farbenfroh gekleideten Freunden und Verwandten lautstark und tränenreich verabschiedet. Auch Briten auf dem Heimweg, Schweizer, Australier und vier Deutsche sind unter den Mitreisenden.

Die Saints bevölkern sofort die Lounges, während wir erst einmal unser Domizil für die kommenden vier Wochen inspizieren. Die Kammer ist klein, sauber, funktionell eingerichtet und hat eine Naßzelle.

Um 18 Uhr soll die „St. Helena“ auslaufen, aber kurz zuvor erfolgt die Durchsage des Kapitäns: „Zwanzig Container mit Lebensmitteln und Medikamenten für die Inselbewohner stehen im Stau“. Das Schiff wird Kapstadt erst am darauffolgenden Tag früh verlassen. Als die Blechkisten eintreffen, ziehen sich Ladetätigkeiten wegen eines plötzlich aufgezogenen Sturmtiefs in die Länge. Aus dem Sturm wird ein Orkan und beschert dem Schiff drei Tage Liegezeit. Selbst der gigantische Frachter der Reederei Rickmers hat Schwierigkeiten, bei acht Windstärken den Hafen zu verlassen.

Endlich die Durchsage: „Leinen los mit nordwestlichem Kurs auf St. Helena“, 1.704 Seemeilen entfernt, etwa  der gleiche Breitengrad wie Süd-Angola. Wir haben uns inzwischen häuslich eingerichtet. Im Restaurant werden Vorspeisen, Hauptgerichte und Desserts von ausgezeichneter Qualität serviert, Brote, Brötchen, Kuchen und Torten frisch von Hand gefertigt und gebacken. Dazu die berühmten  südafrikanischen Weine! Zu den Mahlzeiten wird mit einer melodischen Folge von Klingeltönen geladen. 

Ruhig und behäbig zieht das Schiff seine Bahnen. Vielleicht ist es das gleichmäßige Tuckern, das eine paradiesische Wunschlosigkeit erzeugt, vielleicht die Schwärme von fliegenden Fischen, die an der Schiffswand vorbeihuschen, vielleicht aber auch nur die Freiheit - ohne Handy und Internet.

Eine korpulente Frau in Begleitung eines jungen Schwarzen mit langen, verfilzten Haaren ist an Bord. Die Dame stammt aus Australien und hat für ein Jahr einen Job in einer Steuerbehörde auf St. Helena angenommen. Den Rasterfari hat sie vor ein paar Wochen in Sambesi aufgelesen und den angeblichen Surflehrer quasi von Kral, Frau und Sohn befreit. Das Paar will so schnell wie möglich auf St. Helena heiraten, damit der Mann für Australien eine Aufenthaltsgenehmigung erhält.

Inselrundfahrt in einem offenen 1929er Cadillac

Nach viereinhalb Tagen ankert das Schiff vor Jamestown, St. Helena. Die Insel ist 16 Kilometer lang, zehn Kilometer breit und Dianas Peak mit 820 Metern der höchste Punkt. Ehe wir auf Inselrundfahrt gehen, steht zunächst die berühmte Jacobsleiter auf unserem Programm. Diese Treppe verbindet auf fast zweihundert Höhenmetern die obere mit der unteren Stadt. 699 steile, unterschiedlich hohe Stufen setzen Schwindelfreiheit und Kondition voraus, aber dann werden wir mit einem grandiosen Ausblick auf Insel, Hafen, Klippen und Brandung belohnt.

Der Abstieg ist kräftezehrend, und zu allem Überfluß fängt es auch noch an zu regnen. Nicht die beste Voraussetzung für eine Inselrundfahrt in einem offenen Oldtimer. Collin, Fahrer des Lincoln Baujahr 1929, wartet am vereinbarten Treffpunkt und reicht uns ungefragt einen bunten Regenschirm. Der verschafft uns zumindest die Illusion, ein Dach über dem Kopf zu haben.

In Jamestown herrscht Verkehr wie am Berliner Kurfürstendamm. Der Oldtimer quält sich über schmale Serpentinen, bergauf und bergab, und die Abgase der schleichenden Wagenkolonnen setzen uns zu.

Natürlich ist der Verbannungsort Napoleons das erste Ziel der Touristen aus aller Welt. Wir besichtigen sein Übergangsquartier, später das feudale Haus mit schönem Garten, in dem er fünfeinhalb Jahre lebte und dort auch starb. Es gehört dem französischen Staat. Der hat längst die Originalausstattung durch Kopien ersetzt, und wir belächeln den so malerisch dekorierten Mantel, der eher Dirk Nowitzki gepaßt hätte als dem eher kleingewachsenen Herrscher.

Das Grab befindet sich ein paar Kilometer weiter in einer üppig blühenden Parkanlage. Es ist leer, Napoleons Gebeine ruhen im Pariser Invalidendom. Da sich Engländer und Franzosen auf keine Grabsteininschrift einigen konnten, wirkt die schwarze Marmorplatte düster und abweisend. Sie ist so plaziert, daß der Besucher sich verbeugen muß, um sie zu betrachten.

Vor dem Gouverneurspalast grast die 185 Jahre alte zahme Riesenschildkröte Jonathan. In der Nähe des Schloßgartens steht der gemütlich wirkende Inselknast. Bei mehr als 4.000 Einwohnern, davon 840 in Jamestown, sitzen nur vier Leute wegen Drogendelikten ein und führen ein Leben wie Gott in Frankreich. Bei offenen Gefängnistüren und Mahlzeiten, die von der Spitzenküche des Consulate-Hotels geliefert werden.

Am Hafeneingang stülpen wir uns den vorgeschriebenen harten Hut über, ehe wir das Terrain betreten dürfen. Schaudernd stehen wir vor einem Berg zerbrochener Holzplanken und Plastikteile. Einige Tage zuvor hatte ein Weltumsegler an einer Boje festgemacht und war mit seiner Crew an Land gefahren. Ruhiges Wetter war vorausgesagt. Als ein plötzlicher Sturm aufkam, konnte der Eigner nur noch zusehen, wie der sofort aufgetürmte Schwall das Schiff von der Boje riß, mit voller Wucht auf die Klippen warf und zertrümmerte.

Wir stehen unschlüssig an der Anlegetreppe, die alle paar Sekunden unter Wassermassen verschwindet. Brecher schlagen über Uferbefestigungen. Im Hafen parkt ein Leichenwagen. Ein Saint hatte sich gewünscht, in England bestattet zu werden. Auch diesen Wunsch erfüllt die Reederei.

Ein Fischerboot tanzt auf uns zu. „Nehmen Sie uns mit?“ fragen wir zaghaft. „Sicher.“ Blitzschnell werden Rettungswesten geworfen, wir klammern uns an Sicherheitstlampen, die von einem Eisengestell baumeln, schwingen uns ins Boot und fühlen uns wie Kinder auf einem Abenteuerspielplatz. Zehn Minuten später hilft uns die Schiffswache über die schlingernde Gangway, und der Barkeeper zapft zur Begrüßung ein Bier. 

Ascension: Notflughafen für den Space Shuttle

Die zweite Etappe beginnt. 706 Seemeilen, knappe zwei Tage, sind es bis zur Insel Ascension. Das Eiland ist Militärstützpunkt, britisches Überseegebiet, wird aber von Amerika mitgenutzt. Deklariert als Notflughafen für den Space Shuttle, wie auch die Osterinsel, ausgestattet mit einer über drei Kilometer langen Landebahn. Hier trifft zweimal in der Woche eine Militärmaschine von den Falklandinseln ein, die nach Brize Norton bei Oxford, England, weiterfliegt und 22 Sitze für Privatreisende zur Verfügung stellt. Alle anderen Plätze sind dem Militär vorbehalten.

Viele junge Gesichter sind jetzt an Bord, meist Zivil- und Militärpersonal für die Falklands. Aber auch ein Ehepaar mit seinem Sohn. Der Zwanzigjährige war an Leukämie erkrankt und wird zur Behandlung von Ascension nach Großbritannien geflogen. Die Eltern folgen ihm auf dem Seeweg. Der Bischof der anglikanischen Kirche reist mit. Nach siebzehn Jahren Dienst auf der Insel geht dieser in Pension und kehrt zum Mutterland zurück.

Passagiere dürfen sich nicht frei auf der Insel bewegen. Die organisierte Rundfahrt führt über schmale Serpentinen durch ein halbwüstes, vulkanisches Gebiet bis auf die Spitze eines 850 Meter hohen Berges zu einer verlassenen Farm. Die Besitzer hatten keinen Nachfolger  gefunden und altersbedingt aufgegeben. Felder und Gewächshäuser verkommen.

 Der Blick auf Vulkangestein, grünbewachsene Berge, buntblühende Pflanzen, türkisfarbenes Meer und Traumstrände wird durch dichte Präsenz von Parabolantennen, elektronischen Abhör-Anlagen und Gitterrohrmasten verstellt. Wege dürfen nicht verlassen werden, aber ohnehin fühlen wir uns neben den Elektrowäldern unbehaglich.

Etwa tausend Menschen sollen hier leben oder stationiert sein, alles streng geheim. Unsere Fragen werden nicht oder ausweichend beantwortet. Auf den Straßen ist kein Mensch zu sehen.

Die Regierungsgebäude wurden im amerikanischen Kolonialstil errichtet, die Unterkünfte der Bediensteten bestehen nur aus Containern mit Dach. Anscheinend sind Provisorien zur Dauereinrichtung geworden.

Zurück an Bord findet die obligatorische Äquatortaufe statt, und schon wird der Anker gelichtet. Mit mehr als sechzehn Knoten surft das Schiff auf einer Dünung seinem nächsten Ziel entgegen: Teneriffa, 2.208 Seemeilen entfernt.

Die Zeit verrinnt wie Wasser zwischen den Fingern

Für uns vergehen die Tage unerklärlich schnell. Zusehen, wie die Sonne aufgeht, Wolken ziehen, Wale und Delphine springen, über den Sinn des Lebens grübeln. Dazu finden beinahe jeden Tag phantasievolle Partys statt. Eine Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer: Der an Leukämie erkrankte Junge ist gestorben. Vielleicht wäre es menschlicher gewesen, die Hiobsbotschaft erst kurz vor Portland zu verkünden.

Nach sechs Tagen begrüßt uns der Gipfel des Teide schneebedeckt und wolkenfrei. Er ist mit 3.718 Metern gleichzeitig höchster Berg der Kanaren und Spaniens. Hier wird Treibstoff gebunkert. Crew und Passagiere dürfen einen halben Tag durch Santa Cruz schlurfen und Dinge kaufen, die sie nicht brauchen.

In Vigo, Festland-Spanien, 896 Seemeilen entfernt, werden die georderten achtzehn Kühlcontainer mit St.Helena-Fisch gelöscht. Noch 665 Seemeielen bis Portland legen wir auf stark befahrenen Schiffahrtswegen zurück, und mit der Einsamkeit ist es schlagartig vorbei. Wir passieren Madeira, kämpfen uns durch die stürmische Biscaya, die ihrem Ruf alle Ehre macht, und biegen in den Ärmelkanal ein. Eines der größten Containerschiffe der Welt überholt: 400 Meter lang, 13.500 Container Kapazität.

Fahrplanmäßig macht die „RMS St. Helena“ am 28. Reisetag in Portland fest. Der Abschied fällt uns schwer, und wir haben schon vor dem Verlassen des Schiffs Sehnsucht nach der rauhen Südatlantikinsel und ihren so liebenswerten Bewohnern mit den knallbunten T-Shirts, auf denen die Frage geschrieben steht „Where on earth is St. Helena?“