© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Pankraz,
der Krieg der Gene und die innere Uhr

Es klang ziemlich komisch, aber auch irgendwie rührend. Die Nobelpreis-Jury vorige Woche in Stockholm sprach bei der Verkündung des diesjährigen Preises für Verdienste in der Medizin von einem „Paradigmenwechsel“ in der Heilkunde, aber bei der Erklärung dieses dramatischen  Wechsels gab es dann nur altbekannte Banalitäten. Die Erkenntnisse der Ausgezeichneten, sagte die Sprecherin, „können ein Bewußtsein dafür schaffen, wie wichtig gute Schlafmuster sind. Deutlich wird, daß man den besten Schlaf in einer dunklen Umgebung bekommt.“

Der unter Schlafbeschwerden leidende moderne Durchschnittszeitgenosse kratzt sich verwundert hinter den Ohren. Dunkle Umgebung? Natürlich gehört dunkle Umgebung, nebst möglichst großer Außenstille, elastischer Matratze und wärmender Oberdecke zum guten Schlafen, das weiß doch jeder, dazu bedarf es keiner hochgelehrten Universitätsbiologen, die dafür fast eine Million Euro Preisgeld erhalten. Alfred Nobel hat es einst anders gemeint. Der von ihm gestiftete Medizinpreis sollte für die Entwicklung wahrhaft durchschlagender, auch sofort einsetzbarer Heilmethoden verliehen werden.

Die drei jetzt in Stockholm ausgezeichneten Medizinpreisträger haben keine neuen Heilmethoden entwickelt, und ob sie die Voraussetzung dafür geschaffen haben, steht bisher noch völlig in den Sternen. Es sind Molekular- und Genforscher, die in jahrzehntelanger Arbeit einige Gene und Proteine identifziert haben, welche einen in allen Lebewesen wahrnehmbaren „Tag-Nacht-Rhythmus“ erzeugen oder ihn zumindest begleiten. Die fraglichen Gene, so kam heraus, führen in den Zellen einen regelrechten Krieg gegeneinander um die Vorherrschaft in den Zellkernen, und dies bringe also den Tag-Nacht-Rhythmus hervor.


Voreilige Kommentatoren sprechen nun davon, daß durch die Forschungen der neuen Medizin-Nobelpreisträger endlich die „Innere Uhr“ von uns Menschen nachgebaut werden könne. Nicht nur unser Schlafrhythmus werde künftig zum Segen aller Lang- oder Kurzschläfer  technisch geregelt werden können, sondern letztlich unser Leben insgesamt. Eine kleine Tabletteneinnahme pro Tag und unser fehlbarer Wille werde ausgeschaltet, alles werde den Genen überlassen!

Pankraz hielte eine solche Perspektive für reinen Horror, aber glücklicherweise sind die, die ihn begeistert voraussagen, reine Toren. Um zunächst von der „inneren Uhr“ zu sprechen: Sie ist zwar eine beliebte und für den einzelnen oft gar nicht unnütze Metapher, aber eben nur eine Metapher, ein Bild. Eine reale Uhr ist ja nichts weiter als ein simpler Zeitmesser, und die reale Zeit ist nichts weiter als das, was vergeht. Alles, was sonst passiert, jederlei konkretes Wie und Warum, ist ihr gleichgültig. Und die reale Uhr tickt dazu.

Man kann die metaphorische „innere Uhr“ ohne weiteres als genaues Gegenteil einer realen Uhr definieren. Sie läßt die Zeit nicht einfach wegticken, sondern sie „teilt sie ein“, „beschleunigt“ sie, „hält sie an“, versucht es wenigstens. Und das fängt mit beim Schlafen an. Man denke nur an die schier unabzählbare Menge pharmazeutischer Schlaf- oder Wachhaltemittel, mit denen wir den von Genen gesteuerten Tag-Nacht-Rhythmus zu beeinflussen oder gar zu überlisten versuchen! Viele dieser Mittel sind sogar nach verläßlicher Auskunft gesundheitsschädlich – und werden trotzdem genommen.

Kaum ein Arzt oder Pharmazeut wagt es, vom Gebrauch künstlicher Schlafmittel (oder Aufputschmittel, Duchhaltemittel, Anti-Schmerzmittel) pauschal abzuraten; man warnt lediglich vor Risiken und Nebenwirkungen, mahnt zum Maßhalten und zum rechtzeitigen Arztbesuch, wenn sich unvorhergesehene Verschlechterungen einstellen. Alle wissen im Grunde, daß die „innere Uhr“ ein Aufstand der lebendigen und sich ihrer selbst bewußten Kreatur gegen das (um es so zu sagen) ungebremste Regierenwollen einer zellularen Unterwelt mit all ihren Genen und Proteinen ist.


Übrigens hat dieser Aufstand mittlerweile auch die Wissenschaft selber erreicht. Der Disziplin der Genetik (die sich vor noch gar nicht langer Zeit für alleinbestimmend hielt) ist die Disziplin der Epigenetik (Ergänzungsgenetik) beigetreten und faltet sich immer weiter aus. Sie untersucht die jüngst zahlreich zu beobachtenden Zellveränderungen, die nicht aus bloßer Zellteilung bestehen, sondern neuartige „Tochterzellen“ entstehen lassen. Diese Tochterzellen können ihre Neuartigkeit vererben und rufen somit den durch die Genetik angeblich längst widerlegten Grundsatz von der Vererbarkeit erworbener Eigenschaften in Erinnerung.

Aber die DNA-Sequenz wird durch die Tochterzellen bemerkenswerterweise gerade nicht verändert. Es wird hier nichts „erworben“, mikrologisch beibt alles beim alten – und trotzdem herrscht gewissermaßen ein neuer Wille in der Zelle, neue Potenzen zum Neuerfinden und Abbilden sind da. Es ist, als sei den Genen ein neues, materiell unfaßbares Paradigma vorgesetzt worden, das sie vor Schreck gleichsam erstarren ließ. Denn darin liegt die wissenschaftliche Sensation: Die Erbveränderungen lassen sich zwar im Phänotyp, also in der konkreten Erscheinung beobachten, nicht aber in der DNA-Sequenz.

Um  auf die „innere Uhr“ zurückzukommen: Erfunden hat das Wort schon vor dreihundert Jahren der französische Geophysiker Jean Jacques d’Ortous de Mairan. Er beobachtete eine Mimose, die stets ihre Blätter  öffnete, wenn das Tageslicht sie erreichte, und sie erst wieder schloß, wenn es dunkel wurde. De Mairan stellte die Pflanze an einen Ort ohne Licht. Zur Verblüffung des Forschers öffneten und schlossen sich die Blätter auch weiterhin exakt nach demselben Rhythmus. Daraus schloß er, daß die Mimose eine „unabhängige“ Uhr in sich tragen müsse. 

Nun, Respekt vor dem frühen Geophysiker. Aber nicht jeder ist eine Mimose, auch wenn er sich mit der Metapher „Mimose“ schmücken läßt. Unsere menschliche Mimosenhaftigkeit ist unendlich viel unabhängiger. Sie kann nicht einmal von Genen vereinheitlicht werden.