© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Speerspitze der Bewegung
Vierzig Jahre nach dem „Deutschen Herbst“ legt Wolfgang Kraushaar ein bemerkenswertes Buch über die RAF und ihren 68er-Resonanzraum vor
Karlheinz Weißmann

Wolfgang Kraushaar ist neben Gerd Koenen sicher der bedeutendste Historiker der 68er-Bewegung. Kraushaar wie Koenen waren an der „Studentenrebellion“ Beteiligte, haben sich aber im Laufe der Zeit neben umfassender Kenntnis der Materie ein Maß an Distanz zu den Ideologien, Ereignissen und Akteuren erarbeitet, das der Sachlichkeit und kritischen Analyse wohltut.

Diese Feststellung gilt auch für den neuesten Band Kraushaars, der verschiedene Aspekte der Geschichte der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) behandelt. Die RAF war zwar nicht die einzige, aber die wichtigste terroristische Bewegung der Bundesrepublik. Zwischen ihrer Gründung 1970 und ihrer „Selbstauflösung“ 1998 verübten ihre Kommandos mindestens dreiundreißig Morde sowie zahlreiche Anschläge; einige Mitglieder der „Dritten Generation“ sind bis heute nicht gefaßt und begehen weiterhin Straftaten.

Lange Zeit wurde die „weiße Legende“ aufrechterhalten, daß es keinen direkten Zusammenhang zwischen den 68ern und der RAF gegeben habe. Dem widerspricht Kraushaar mit Nachdruck. Wie weit man die Ursprünge des Terrorismus zurückverfolgen kann, macht er an der Gestalt Rudi Dutschkes deutlich, dessen Schwadronieren über die „Stadtguerilla“ und die Notwendigkeit, Che Guevaras „Fokus-Theorie“ auf die Industrieländer zu übertragen, genauso eine Rolle spielte wie die Praxis der „Illegalisierung“ von immer größeren Anhängergruppen, denen man zwar einredete, daß sie lediglich „Gegengewalt“ ausübten, die aber faktisch darauf trainiert wurden, systematisch Gesetze zu brechen und die staatliche Ordnung anzugreifen.

In dieser Perspektive erscheint das Vorgehen von Gudrun Ensslin und Andreas Baader bei den Kaufhausbrandstiftungen am 2. April 1968 nicht mehr als isolierte Einzeltat, sondern als Konsequenz, die eine Minderheit zog, die bereit war, das zu tun, wovon die Mehrheit, die „Schwätzer“, nur redeten. 

In der Folge entstand ein erheblicher Handlungsdruck, der zuerst nur am Dilettantismus der Akteure zu scheitern drohte. Die von den Kommunarden Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel in West-Berlin und München gegründeten „Tupamaros“-Guerilleros verschwanden jedenfalls nach kurzem wieder von der Bildfläche. Ensslin und Baader tauchten nach ihrer Verurteilung zwar unter, aber Baader wurde kurz darauf erneut verhaftet. 

Die Entwicklung nahm erst Tempo auf, als man Baader gewaltsam befreite und sich die bekannte Journalistin Ulrike Meinhof dem Duo anschloß. Nach Kraushaar war für diesen Ablauf der Ereignisse der Anwalt Horst Mahler verantwortlich, der Ensslin und Baader verteidigt hatte, aber auch eine wichtige Figur der linken Szene war und den Plan faßte, eine terroristische Organisation nach dem Vorbild der frühen Bolschewiki zu schaffen. Als „Spinne im Netz“ sorgte Mahler dafür, daß eine Kernformation, bestehend aus ihm, Ensslin, Baader und Meinhof, sowie zwanzig weitere Personen ohne Kontrolle durch die DDR-Grenzbehörden nach Jordanien ausreisen konnten, wo sie in einem Lager der Fatah eine militärische Ausbildung erhielten. 

Was diese Minderheit antrieb, hat das ehemalige RAF-Mitglied Volker Speitel knapp zusammengefaßt: „Der Eintritt in die Gruppe, das Aufsaugen ihrer Norm und die Knarre am Gürtel entwickeln ihn dann schon, den ‘neuen’ Menschen. Er ist Herr über Leben und Tod geworden, bestimmt, was gut und böse ist, nimmt sich, was er braucht und von wem er es will; er ist Richter, Diktator und Gott in einer Person, wenn auch für den Preis, daß er es nur für kurze Zeit sein kann!“

Der Fortgang der Entwicklung des westdeutschen Terrorismus bis zum Scheitern der „Offensive ’77“, dem Selbstmord von Meinhof, Baader und Ensslin, wird von Kraushaar unter verschiedenen Aspekten beleuchtet. Dabei geht es um die Beziehung der RAF zur konkurrierenden „Bewegung 2. Juni“ oder den „Feierabendterroristen“ der „Roten“ beziehungsweise „Revolutionären Zellen“, dann um die problematische Rolle der RAF-Verteidiger (wobei trübes Licht auf Otto Schily und sehr trübes auf Hans-Christian Ströbele fällt) und um das Milieu der Sympathisanten, das eben nicht nur die „Spontis“ (um Daniel Cohn-Bendit) samt „Putztruppe“ (um Joschka Fischer) und dann die „Autonomen“ umfaßte, sondern bis in das Milieu des progressiven Bürgertums hineinreichte. 

Grotesk, aber bezeichnend war insofern das Schicksal des Lehrers Rodewald, der der gesuchten Meinhof nur zum Schein Unterschlupf bot, sie dann aber der Polizei auslieferte. Als Linker hatte er gezögert, sich an den verachteten oder verhaßten Staat zu wenden, sein schlechtes Gewissen wegen des „Verrats“ konnte er nur schwer beruhigen, die Belohnung spendete er prompt zur Verteidigung der „Gefangenen“, sah sich aber trotzdem in einer Weise verfemt, daß er seinen Beruf aufgeben mußte. In der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft wurde er geächtet, seine Ehe zerbrach, er ging schließlich ins Ausland, kehrte zurück, kam mühsam noch einmal auf die Beine, um dann vereinsamt zu sterben.

An einem Einzelfall wird hier deutlich gemacht, daß der Terrorismus noch ganz andere Opfer gefordert hat als diejenigen, die durch ein Bombenattentat oder eine Kugel getötet wurden. Zu besserer Einsicht hat das kaum geführt. Nicht einmal nach dem definitiven Scheitern der „Ersatzrevolution“. Immerhin bot das der Linken die Möglichkeit, einen Schnitt zu machen, sich nach einer Phase der Depression im neuen – nun grünen – Kleid zu präsentieren und die gewachsene Meinungsmacht zu nutzen, ein Geschichtsbild zu schaffen, in dem die eigene Schuld, die eigenen Verstrickungen, das eigene Versagen, der eigene Wahn entweder gar keine oder nur eine sehr kleine Rolle spielten. 

Daß die Arbeiten von Kraushaar dabei helfen, diese Verdrängung zu beenden, ist ein nicht geringes Verdienst. Es wäre allerdings größer, wenn er auch anerkennen würde, daß die Gegner der 68er nicht nur früh und mit Nachdruck auf die Gefahr des Abgleitens in den Terrorismus hingewiesen hatten, sondern immer wieder betonten, welche Gefahr in dem merkwürdigen Wohlwollen der Mitte gegenüber der Linken lag, der Bereitschaft, ihr eine „Legitimitätskonzession“ (Hermann Lübbe) zu machen, irgendeine Berechtigung ihrer Anliegen zuzugestehen oder die Sensibilitäten dieser Gruppe zu hätscheln, deren destruktive und im Kern totalitäre Tendenz mit aller Kraft hätte bekämpft werden müssen.

Wolfgang Kraushaar: Die blinden Flecken der RAF. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2017, gebunden, 423 Seiten, Abbildungen, 25 Euro