© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Atemberaubende Visionen
Darunter macht er es nicht: Der 68er-Politikwissenschaftler Claus Leggewie will mit seiner „Unabhängigkeitserklärung“ Europa neu begründen
Siegfried Gerlich

Nicht nur aus Provokationslust greift der renommierte Politologe Claus Leggewie im Titel seines neuen Buches eine Leitparole Donald Trumps auf, um sie für ein europäisches Gegenprogramm in Anspruch zu nehmen. Der noch immer bekennende „68er“ meint es ernst, wenn er sein „Eu­ropa zuerst!“ als eine „Unabhängigkeitserklärung“ präsentiert, die unseren „Hafen von Freiheit“ vor einem „Meer imperialer Piraten“ schützen soll, die allesamt „Europa zerstören“ wollten. 

Nachdem Leggewie in seinem vorangegangenen Pamphlet „Anti-Europäer“ den norwegischen Rechtsextremen Anders Breivik, den russischen Nationalbolschewisten Alexander Dugin und den syrischen Islamisten Abu Musab Al-Suri zu einem Trio infernale gruppiert hat, um diffuse Ängste vor populistischen Bewegungen zu schüren, verschärft er in seiner aktuellen Streitschrift nochmals seinen alarmistischen Ton: Die gängige Rede von „Populismus“ betreibe eine gefährliche Verharmlosung dessen, was in Wahrheit der alte „völkisch-autoritäre Nationalismus“ sei, der in Trump und Putin, Orban und Erdogan seine Wiederauferstehung feiere. Aus der Umklammerung durch diese anti-europäischen Mächte aber könne den europäischen Kontinent allein Deutschland befreien, welches sich daher als „wohlwollender Hegemon“ behaupten müsse: Nach außen hätte eine „deutsche Friedensmacht“ einen menschenrechtlichen Universalismus zu vertreten und nach innen den „wahren Patriotismus“ gegen die „Antideutschen der AfD“ zu verteidigen, die Deutschland notorisch schlechtredeten. 

Mögen derlei Spitzen noch als dialektische Polemik durchgehen, so befremdet spätestens die postfaktische Ignoranz, mit der Leggewie den „National-Sozialismus“ von AfD und Pegida dafür verantwortlich macht, daß in Deutschland „Antisemitismus, Misogynie und Homophobie neuen Auftrieb“ erhalten hätten, ohne einen Blick in aktuelle Kriminalstatistiken zu riskieren, welche diesem Auftrieb zuverlässig einen Migrationshintergrund attestieren. Mit Hilfe des magischen Bannwortes „Islamophobie“ fiktionalisiert er selbst handgreifliche Realitäten wie „Terror und Religionskriege“ zu bloßen „Horrorphantasien“, die von autoritären Nationalisten „ausgemalt“ und von den Medien „über die Maßen verbreitet“ worden seien. 

Doch weit davon entfernt, die „Lügenpresse“ von links anzugreifen, hält Leggewie die linkspopulistische Lüge, dieser Topos ginge auf Joseph Goebbels zurück, ebenso gesinnungstüchtig aufrecht, wie er die demagogische Verwirrung politischer Begriffe vorantreibt, indem er die Unterscheidung von „Einheimischen und Einwanderern, Christen und Muslimen“ als „menschenfeindlich“ und die Bezugnahme auf die Souveränität des „Volkes“ als „antidemokratisch“ diskriminiert. 

Der logischen Konsequenz, unsere Verfassung selbst für verfassungsfeindlich zu erklären, weicht Leggewie freilich aus, doch wirkt seine Berufung auf Ernest Renans Diktum, die Demokratie sei „ein tägliches Plebiszit“, darum nicht weniger phrasenhaft. Denn abgesehen davon, daß für den französischen Historiker die aus einer „gemeinsamen Geschichte“ erwachsene Nation eine unabdingbare Voraussetzung demokratischen Gemeinsinns darstellte, sind es gerade die dem Autor verhaßten rechtspopulistischen Parteien, welche die grundgesetzliche Verankerung plebiszitärer Elemente fordern. Leggewie hingegen will die von Colin Crouch schon beizeiten als „Postdemokratien“ charakterisierten europäischen Nationalstaaten partout in eine gesamteuropäische „postnationale Demokratie“ auflösen, welche wundersamerweise „Nachhaltigkeit, Teilhabe und Solidarität“ garantieren würde, ohne daß ihn dabei die von Milton Friedman bis Rolf Peter Sieferle immer wieder angemahnte Unvereinbarkeit von Grenzoffenheit und Sozialstaatlichkeit irgend ins Grübeln brächte. Nach allem menschlichen Ermessen aber dürfte die von Leggewie als „atemberaubend“ beworbene Idee eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ in Verbindung mit einer „Unionsbürgerschaft für staatenlose Flüchtlinge“ inklusive „Ausländer-Wahlrecht“ Europa weit mehr als nur den Atem rauben. 

Vollends Leggewies revidierter „Eurozentrismus“, der maßgeblich von zivilgesellschaftlich engagierten Gruppen und international agierenden NGOs getragen werden soll und daher jedes „ethnozentrische“ oder „leitkulturelle“ Selbstverständnis zurückweist, weckt den Argwohn, daß dieser Politologe, der sich von einer solchen homöopathisch verdünnten europäischen Substanz potenzierte Wirksamkeit für die künftige Genesung unseres Kontinents erhofft, längst zu einem unter Realitätsverlust leidenden politischen Heilpraktiker regrediert ist. Am Ende nimmt sich Leggewies unerschütterliches Wunschdenken wie ein Verleugnungsversuch jenes veritablen Schocks aus, den die konservative Tendenzwende unserer Gegenwart für die einstmals durch die Institutionen marschierten und endlich im Ruhestand angelangten 68er bedeutet, die sich nunmehr selbst auf seiten des Establishments wiederfinden und es nicht wahrhaben wollen.

Claus Leggewie: Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung. Ullstein Verlag, Berlin 2017, gebunden, 320 Seiten, 22 Euro