© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Blanke Angst um die Diskurshoheit
Im Zeitalter von Trump, Brexit, Orban und AfD: Heinrich August WInkler warnt vor dem Untergang seiner speziellen Vision des westlichen Abendlandes
Eberhard Straub

Projektemacher standen in unaufgeklärten Zeiten im Ruf, sich trotz zuweilen erstaunlicher Kenntnisse und Fähigkeiten nicht von Scharlatanen zu unterscheiden. Das hat sich mittlerweile vollständig geändert. Gerade Deutsche, Europäer und US-Amerikaner sollen die Mitarbeit in der transatlantischen Wertesystemschmiede nicht vernachlässigen, damit sich das universale Projekt der Aufklärung im normativen Projekt Europa und des transatlantischen Westens vollenden kann. Das sind sie vielen noch unzulänglich aufgeklärten Erdbewohnern schuldig, um auch sie reif für den Anschluß an den Westen zu machen. Das heißt, aufgeklärt, weltoffen und vorurteilsfrei dem Menschen als Mensch unter Menschen zu begegnen. Der Historiker Heinrich August Winkler, vom heiligen Geist der Verwestlichung ergriffen, verkündigt in feurig-pfingstlicher Rede diese frohe Botschaft seit Jahrzehnten den Deutschen, die so lange brauchten, um endlich heitere Westdeutsche nach 1949 oder zu einem erheblichen Teil erst nach 1989 zu werden. 

Nichts Menschliches ist ihm fremd. Sobald aber – gemäß seiner Einschätzung – illiberale, rechte, ultrarechte, nationalistische, philofaschistische und homophobe Populisten einige Aufmerksamkeit finden, dann muß er sich sorgen und Alarm schlagen. Denn das Projekt der Moderne, der Aufklärung, des Westens und Europas ist in Gefahr. Der wehrhafte Menschenfreund, der Wächter, Orientierungshelfer und Sinnstifter Heinrich August Winkler muß sich unbedingt sorgen, er darf nicht wegschauen oder schweigen gerade hier in diesem Lande mit seinen ganz besonderen, immer zum Bösen geneigten Einwohnern, denen als Deutsche alles Menschliche allzu lange völlig fremd war. „Zerbricht der Westen?“ fragt er aufgeregt unter dem Eindruck ihn verwirrender Entwicklungen in den Staaten der EU und der USA. Der Westen darf nicht zerbrechen und vor den Populisten kapitulieren! 

Mit dieser Botschaft steht er nicht als Rufer in der Wüste allein. Heinrich August Winkler verstärkt mit seinem Weckruf die unzähligen Mahnrufe, die in den führenden Tageszeitungen seit gut zwei Jahren damit beschäftigt sind, aus geistiger Trägheit und politischer Gleichgültigkeit noch nicht hinlänglich alarmierte Menschen in Deutschland aufzurütteln. In den Anmerkungen verweist er auf die edlen, liberalen  Mitstreiter, die einen neuen Untergang des Abendlandes aufhalten und verhindern wollen.   

Der Professor für Geschichte liest viele liberale Zeitungen und Wochenschriften, auch liberale Traktate von gleichen brennenden Sorgen bewegt, die auch ihn umtreiben und nicht schlafen lassen: Wie überleben die USA einen Präsidenten Trump, was wird aus Polen, Ungarn, den illiberalen Demokratien, wie kann der Euro gerettet werden und die Einwanderung menschlich und zugleich juristisch so einwandfrei verlaufen, daß unaufgeklärte, dumpfe Nationalisten nicht mehr im Trüben fischen können? Er weiß darauf keine Antwort. Auch weil ihm seine Gewährsmänner in den Qualitätsmedien – meist sind es wirklich Männer – keine gründliche Auskunft geben. Sie informieren nicht unbedingt, sie machen Politik und verbreiten Meinungen, wie auch die vielen Institute, die mit Meinungsumfragen Meinungen präparieren möchten. Winkler versucht erst gar nicht, als Historiker aus mancherlei historischen Gründen die ihn und weitere Liberale irritierenden Phänomene – Wahlverhalten, Unmut über Europa, Enttäuschungen in der jeweiligen Nation oder Proteste gegen die eigene Regierung – zu verstehen und zu erklären. 

Was ihn und die von ihm stets liberal genannten Vertreter der westlichen Gesinnungs- und Wertegemeinschaft vorzugsweise beunruhigt, sind die unterschiedlich motivierten Versuche, im „Westen“ deren bislang unbestrittene Meinungsführerschaft in Frage zu stellen oder gar zu erschüttern. Wehrt solchen Anfängen – das ist der liberale Imperativ! Es geht um die Hegemonie und damit um die Deutungshoheit, wie Freiheit, Recht, Verfassung, Menschenrecht, Demokratie und vor allem die Werte interpretiert und verstanden werden müssen. Das ewige Gespräch gehörte zur Legitimation des klassisch liberalen Rechtsstaates. Im normativen Projekt Europas und des Westens soll hingegen geklärt werden, wer das Gespräch beenden und darüber entscheiden darf, was überhaupt diskussionswürdig ist. Das ist auf jeden Fall kein liberales Programm. 

Heinrich August Winkler: Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika.  Verlag C.H. Beck, München 2017, gebunden, 24,95 Euro