© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Er hatte Brillanz – theoretisch
Franziska Meifort porträtiert den Erzliberalen Ralf Dahrendorf und seine Grenzgänge zwischen akademischem und politischem Katheder
Konrad Adam

Über den Intellektuellen sind Unmengen von Aufsätzen und ganze Bücher geschrieben worden, ohne daß diese Kunstfigur klare und faßliche Konturen gewonnen hätte. Aber selbst heute, acht Jahre nach seinem Tod, wird den meisten bei der Frage nach einer Verkörperung dieses Typs der Name Ralf Dahrendorf einfallen. Dahrendorf selbst hat den Intellektuellen als einen Menschen definiert, „der mit dem und durch das Wort“ wirken will – wobei er vor allem an sich selbst gedacht haben dürfte. Unter den vielen glänzenden Eigenschaften, die ihm von allen Seiten zugesprochen worden sind, war die Eitelkeit nicht die geringste.

Er hatte ja auch Grund dazu, denn das Wort stand Dahrendorf zu Gebote wie nur wenigen. Er bewies das in den vielen, ganz verschiedenen Rollen, die er gespielt hat: als akademischer Lehrer, als fleißiger Publizist, als handelnder Politiker und als einflußreicher Berater. Seine Autobiographie trägt den Titel „Über Grenzen“, die er tatsächlich immer wieder überschritten hat, Grenzen von Ländern, Kulturen und Parteien. Seiner Selbstdarstellung folgt nun eine umfangreiche Biographie der Oldenburger Historikerin Franziska Meifort, die mit vielen kleinen Strichen das Bild nachzeichnet, das ihr Meister von sich selbst entworfen hatte.

Dahrendorfs atemberaubende Karriere begann am Frankfurter Institut für Sozialforschung, das er nach ganzen vier Wochen aber wieder verließ, weil er mit Adorno und Horkheimer nicht zurechtkam. Nach kurzen Zwischenstationen in Saarbrücken und Hamburg erhielt er einen Ruf an die Universität Tübingen, wo er aus seiner Antrittsvorlesung eine kritische Antwort auf Rousseaus Preisschrift „Über die Ursprünge der Ungleichheit unter den Menschen“ machte. Er war brillant, meinte Jürgen Habermas im Rückblick auf dies selbstbewußte Entree, „und er wußte es“.

Sein Ehrgeiz trieb ihn weiter, zunächst an die neugegründete Universität Konstanz, wo es ihn aber auch nicht hielt, weil eine neue Rolle lockte, die des Politikers. Die FDP, die sich am Ende der Ära Kiesinger in einer kritischen Phase befand, machte ihm schöne Augen, und Dahrendorf griff zu. Wie immer beanspruchte er den ersten Platz; der in der Politik aber nicht so leicht zu haben war wie im akademischen Milieu. Um sich in einer Partei zu behaupten, braucht es weniger Beweglichkeit und intellektuelle Brillanz als Standvermögen, Bruderküsse und eine verläßliche Hausmacht. Aber die fehlte ihm. 

Über Brüssel, wo Dahrendorf vorübergehend Kommissar für Handelsfragen war, zog es ihn zurück nach England. Als junger Student hatte er die Insel liebgewonnen; auch später noch beschrieb er sie als ein Land, in dem sich besser leben ließ als anderswo auf der Welt. Es dankte ihm mit dem Ritterschlag, wenig später dann mit der Erhebung in den Adelsstand. Als Mitglied des britischen Oberhauses kam er nun endlich dazu, Politik so zu betreiben, wie er sich das vorstellte, nicht als Verwaltung also, sondern als Debatte, als geregelten Konflikt.

Kein Wort hat ihn bekannter gemacht, ist aber auch häufiger angegriffen worden als dies. In einer Sprache, deren Pathos ans Kommunistische Manifest erinnert, pries Dahrendorf den Konflikt als Quelle des gesellschaftlichen Fortschritts. Alles soziale Leben sei Konflikt, „weil es Wandel ist. Es gibt in der menschlichen Gesellschaft nichts Beharrendes, weil es nichts Gewisses gibt. Im Konflikt liegt daher der schöpferische Kern aller Gesellschaft und die Chance zur Freiheit.“ Für ihn war der Konflikt mehr als die Vorstufe der Freiheit, er verschmolz mit ihr.

Älter geworden, hat Dahrendorf diese Position revidiert. In dem Maße, wie sich die Konservativen unter Maggie Thatcher, die er durchaus nicht mochte, liberal aufführten, entdeckte der Erzliberale seine Vorliebe fürs Konservative. Neben den Optionen, den Wahlmöglichkeiten, betonte er nun die Ligaturen, wie er die Institutionen nannte, als zweites Element der Chance. Das ging so weit, daß er, der unersättliche Reformer, von einer Reform des Oberhauses nichts mehr wissen wollte.

In Deutschland ist Dahrendorf als Fürsprecher des Wandels, der Chancengleichheit und der offenen Gesellschaft in Erinnerung geblieben. Seine Rollentheorie, dargelegt in einem schmalen Büchlein mit dem Titel „Homo Sociologicus“, brachte es zum akademischen Bestseller. Die Engländer zeigten sich weniger empfänglich für die großen Würfe, mit denen Dahrendorf sie unterhalten wollte. Nach einem seiner Rundfunkvorträge meinte die Times, Dahrendorf biete statt origineller Ansichten und individueller Begründungen „a broad summary of conventional contemporary thought“.

Über das Mißverhältnis zwischen der hohen Theorie, in der Dahrendorf glänzte, und seinen mitunter grotesken Fehlurteilen im Alltag der Politik hätte man sich in dem Fazit, mit dem die Autorin ihre Darstellung beschließt, etwas mehr gewünscht. Dahrendorf hat ja nicht nur Tony Blairs Irak-Abenteuer unterstützt, er hat auch auf die Frage nach dem am meisten bewunderten Politiker ausgerechnet Robert Mugabe genannt. Intellektuelle, die es in die Politik verschlägt, zeigen neben Stärken eben auch manche Schwächen.

Franziska Meifort: Ralf Dahrendorf. Verlag C. H. Beck, München 2017, gebunden, 477 Seiten, Abbildungen, 38 Euro