© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

Im Reservat der Jugend
Aus dem Leben eines Siebzehnjährigen: Ilker Çataks Spielfilmdebüt „Es war einmal Indianerland“ ist ein hinreißendes Melodram
Sebastian Hennig

Der Sommer eines Siebzehnjährigen ist zumeist länger als sein gesamtes bisheriges kurzes Leben, aber auch als die Jahrzehnte, die noch folgen werden. „Es war einmal Indianerland“ ist der erste Langfilm des 1984 in Berlin geborenen Ilker Çatak. Es gelingt ihm darin, die subjektive Zeitrechnung dieses bedeutungsvollen Lebensalters überzeugend zu etablieren. Sein Film ist ein hinreißendes Melodram, in der Apotheke cineastischer Anästhesie irgendwo angesiedelt zwischen den süßen Giften der Regisseure Detlef Sierck und Emir Kusturica.

Çatak wurde 2015 mit dem Studenten-Oscar für seinen Kurzfilm „Sadakat“ ausgezeichnet. Die durchaus eindrucksvoll erzählte Geschichte rankt sich politisch korrekt um die Proteste in Istanbul. Er hat diese Instrumentalisierung seines Talents offenbar selber gespürt, als er in einem Interview von seinem Erstling als „Wagnisfilm“ sprach. 

Entstanden ist ein Film über den Kraftüberschuß der Jugend. Mauser (Leonard Scheicher) erliegt während einer illegalen nächtlichen Schwimmbad-Party dem Sirenengesang von Jackie (Emilia Schüle). Die ebenmäßige und herzlose Kokotte aus wohlhabenden Elternhaus läßt sich feiern. Der Knabe aus den Hochhäusern vom Stadtrand ritzt sich ihre Telefonnummer mit einer Scherbe auf den Handrücken. Es ist die Schlaghand, mit der er einen Boxkampf zu bestehen hat.

Auf diese Entscheidung läuft der Film hin. Mit Rück- und Vorblenden, Zeitraffern und Perspektivwechseln durchrast die Handlung die Tage vor dem Wettkampf. Diese technischen Mittel behalten dabei ihre technologische Kälte. Die Anwendung der Balkanromantik auf mitteleuropäische Verhältnisse entbehrt der Musikalität eines Kusturica. Denn die hiesige Verkommenheit ist eben Verfall und Degeneration und nicht der anmutige Ausdruck einer ethnisch verwurzelten Gelassenheit.

Mausers Rivale ist Kondor (Joel Basman). Umspielt wird diese Beziehung von rabiaten Halbafrikanern, die als ebenso schmierige wie schadenfrohe Rotte den Weg von Mauser immer wieder kreuzen. Sein Vater und Boxtrainer (Clemens Schick) ist ein Besessener. Mauser versucht instinktiv diesem Sumpf zu entkommen und zugleich die Loyalität zu wahren. Dabei hat er letztlich Glück, daß sich eine Jägerin an seine Fersen heftet. Die vier Jahre ältere und höchst eigensinnige Edda (Johanna Polley) stellt ihm nach. Durch den Dunst seiner Hörigkeit gegenüber Jackie verkennt er die völlig andere Anmut von Edda nicht. Hier winkt ihm die große Liebe zwischen Mann und Weib, die ohne Freundschaft keine Dauer erhält. Es kommt schließlich alles, wie es in einem guten Entwicklungsroman kommen muß. Was wiegt schon ein Totschläger als geliebter Vater gegen die Liebe des Lebens. 

Der Film basiert auf einer literarischen Vorlage

Der Autor Nils Mohl nannte einen Kurzgeschichtenband programmatisch „Ich wäre tendenziell für ein Happy End“. Der Roman „Es war einmal Indianerland“ erschien 2011 als erster Band der „Stadtrand-Trilogie“ des Jugendbuchautors. Mohl hat am Drehbuch mitgewirkt. Seine Erzählung geht filmisch so gut auf, daß man das Buch gar nicht kennenlernen möchte. Als Botschafter aus übersinnlichen Bereichen erscheint immer wieder ein stummer Indianer (Robert Alan Packard) mit einem alten Gesicht à la Udo Jürgens. Zu Motorrad oder Pferd und im Kanu ist er dem wahnhaften Jüngling ein Wegweiser durchs Leben. Aber mehr noch als die Rothaut entpuppt sich ein bärtiger Taxifahrer als Quelle der Weisheit. 

Mit zwei lädierten Händen kämpft Mauser im Ring zuletzt gegen den Untergang. Die Zukunft des sanften Kämpfers liegt nicht in den Armen der kapriziösen Szenekönigin, sondern an der Seite der Jungfrau Edda. „Es war einmal in Indianerland“ erinnert hier etwas an „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“, die Urfassung des jungen Goethe von seinem Entwicklungsroman. Mauser taumelt zielsicher zwischen Jackie und Edda, wie Wilhelm zwischen Mariane und Philine.

Die süße Ungewißheit der frühen Zeit des Menschen ist beispielhaft wiedergegeben. Buchautor Mohl bemerkt dazu: „Teenager sind aber einfach großartige Figuren. Die Außenseiter schlechthin. Wir alle sind da einmal durch. Wir alle haben mit den Abnabelungsprozessen zu kämpfen gehabt – und zuweilen dauern die ja bis ins hohe Alter an. Davon abgesehen: Die Jugend ist nicht zufällig der Lebensabschnitt, der in unserer Gesellschaft ikonisiert wird wie kein anderer. Oft auf befremdliche Weise und aus fadenscheinigen Gründen. Aber im Rückblick leuchtet mir das auch wieder ein: Man erlebt ja im besten Fall eine Zeit der großartigsten Premieren.“

Dem rauschhaften Erzählstil des jungen Dichters entspricht das Stakkato der Filmbilder. Es ist nicht ganz einfach, die Narkose jugendlichen Kraftüberschusses in eine angemessene Form zu überführen. Ilker Çatak und seinen Darstellern ist es geglückt. Es geht hier um eine Form der Selbstverwirklichung, die bar jenes faden Beigeschmacks der Selbsterhöhung ist.