© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

„Um unserer Kinder willen“
Pariser Erklärung: Konservative Intellektuelle sorgen sich um Europa
Wolfgang Fenske

Das Schlagwort „Europa“ ruft in konservativen Kreisen meist gemischte Gefühle hervor. Denn von „Europa“ wird in der medialen Öffentlichkeit gern auch dann gesprochen, wenn eigentlich die Europäische Union gemeint ist. Und so richtet sich manch konservative Kritik nicht gegen die Europäische Union, sondern gegen „Europa“ überhaupt. Der europäische Gedanke, der die Grundlage auch der deutschen Identität bildet, droht den Konservativen zwischen den Fingern zu zerrinnen. 

Wie aber sähe ein Europa der Konservativen aus? Was können sie positiv von Europa sagen, das nicht schon längst von der Brüsseler Bürokratie in Verruf gebracht wurde? Diesen Fragen widmet sich die „Pariser Erklärung“, die am 7. Oktober 2017 von zehn konservativen Intellektuellen aus verschiedenen Staaten Europas veröffentlicht wurde. Die meisten von ihnen sind Philosophen, die prominentesten darunter der britische Publizist Sir Roger Scruton und der deutsche katholische Philosoph Robert Spaemann. Die Unterzeichner gehören in ihrer Mehrzahl zur „Conference for European Renewal“, einem europäischen Verbund konservativer Denkfabriken. Zu ihren Gründern gehörte auch der langjährige Herausgeber der konservativen Theoriezeitschrift Criticón, Caspar von Schrenck-Notzing (1927–2009). Auch die von ihm ins Leben gerufene Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung mit ihrer Bibliothek des Konservatismus in Berlin gehört der CER an.

Unter dem Titel „A Europe We Can Believe In“ („Ein Europa, an das wir glauben können“) entwickeln die Verfasser auf 15 Seiten ihr Bild von Europa. Um es vorwegzunehmen: Der Text fasziniert, erleichtert und erschüttert zugleich. Er fasziniert, weil er verdeutlicht, daß die europäische Tradition, die man einmal als „abendländische“ bezeichnet hat, noch nicht abgerissen, sondern in den Köpfen konservativer Intellektueller in ganz Europa durchaus virulent ist. Er erleichtert, weil die Autoren nicht einen Moment lang der Versuchung erliegen, in den Vorstellungen früherer Jahrhunderte zu schwelgen, sondern vom ersten Satz an strikt gegenwartsbezogen argumentieren. Und er erschüttert, weil er in allem immer auch verdeutlicht, welche Dimensionen europäischen Selbstverständnisses in den letzten Jahrzehnten einfach weggebrochen sind – ohne jede Gewähr dafür, daß sie in ihrer Breite und Tiefe jemals wiedergewonnen werden können.

Bekenntnis zur Heimat und kulturellen Einheit

In ihrer Erklärung bekennen sich die Autoren zu ihrer Liebe zu Europa, die sich nicht rational begründen lasse: „Gewöhnliche Landschaften und Ereignisse sind aufgeladen mit besonderer Bedeutung – für uns, aber nicht für andere. Heimat ist ein Platz, an dem die Dinge vertraut sind und wir wiedererkannt werden, egal wie weit wir umhergewandert sind. Das ist das echte Europa, unsere wertvolle und unersetzliche Zivilisation und Kultur.“ Diesem leidenschaftlichen Verständnis von Europa stellen sie das „falsche Europa“ gegenüber. Seine Vertreter zeichneten eine einseitige Karikatur der Geschichte und verklärten Europa zu einer universalen Gemeinschaft, die in Wirklichkeit weder universal noch Gemeinschaft sei. Doch damit nicht genug: „Das wahre Europa ist in Gefahr, weil das falsche Europa unsere Visionen mit eisernem Griff gefangen hält.“

Doch was ist das „wahre Europa“? Es ist eine Gemeinschaft von Nationen, die ihre eigenen Sprachen, Traditionen und Grenzen haben: „Trotzdem haben wir immer unsere gegenseitige Zusammengehörigkeit anerkannt, selbst wenn wir im Streit miteinander lagen – oder uns gar im Krieg befanden. Diese Einheit-in-Vielfalt scheint uns ganz natürlich; dennoch ist sie bemerkenswert und wertvoll, denn sie ist weder naturgegeben noch folgerichtig.“ Die kulturelle Einheit Europas sei durch die Ausbreitung des Christentums erst möglich geworden. In seinem Gefolge seien Tugenden und Werte entstanden, Ehe und Familie in ihrer grundlegenden Bedeutung erstmals reflektiert worden: „Die meisten Opfer, die wir bringen, bringen wir um unserer Kinder und Ehepartner willen. Diese Haltung der Selbsthingabe ist ein weiterer christlicher Beitrag zu dem Europa, das wir lieben.“ Hinter der Opferbereitschaft des Europäers stehe ein Streben nach Größe, das er von der griechischen und römischen Antike empfangen habe. Darum könne „die Zukunft Europas (…) nur in der erneuerten Wertschätzung unserer besten Traditionen liegen, nicht in einem falschen Universalismus, der historische Selbstvergessenheit und Ablehnung des Eigenen verlangt“. 

Doch das wahre Europa sehen die Verfasser bedroht. Das multikulturelle Experiment, das die christlichen Wurzeln Europas ablehne, habe das christliche Ideal der Wohltätigkeit auf unhaltbare Weise ausgeweitet. „Wir sollen die Kolonisierung unserer Heimat und den Verfall unserer Kultur gutheißen in der bloßen Hoffnung auf den Nachruhm des Europas des 21. Jahrhunderts. (…) Von höheren Idealen entfernt und durch die multikulturelle Ideologie entmutigt, patriotischen Stolz zu zeigen, haben unsere Gesellschaften nunmehr große Schwierigkeiten, an den Willen zu appellieren, sich selbst zu verteidigen.“

Was also ist zu tun? Um den Bann des falschen Europas und seinen utopistischen, pseudoreligiösen Kreuzzug für eine entgrenzte Welt zu brechen, fordern die Autoren eine neue Art der Staatskunst und eine neue Art von Staatsmann. „Ein guter Staatsmann erkennt unser gemeinsames europäisches Erbe und unsere nationalen Traditionen als wunderbar und lebenspendend an, aber ebenso als zerbrechliche Geschenke.“ Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß die Forderung nach Rückkehr zu solider Bildung einen Schwerpunkt der „Pariser Erklärung“ bildet. Einer Bildung, die den Blick für die Realität des Menschen und der Welt schärft, zur Übernahme von Verantwortung für sich selbst und das Gemeinwesen ermutigt, funktionierende soziale und kulturelle Hierarchien würdigt und sich in allem an Recht und Moral orientiert. 






Dr. Wolfgang Fenske, Jahrgang 1969, leitet die Bibliothek des Konservatismus in Berlin. Der volle Wortlaut der Pariser Erklärung im Internet unter:

 www.thetrueeurope.eu