© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

Zeitreise in die Zwanziger
Vergangenen Freitag startete die bisher teuerste deutsche Serie „Babylon Berlin“
Karlheinz Weißmann

Pornographie und Entertainment, Amerikanisierung und Gottlosigkeit, Rauschgiftkonsum und Mafia, emanzipierte Frauen und lose Sitten, viel Talmi und ein Zug ins Bodenlose. Fast wie die Gegenwart. Aber nur fast, die Verkehrs- und die Kommunikationsmittel sind archaisch, die NSDAP ist eine erlaubte Partei, Stalin lebt und Trotzki auch, der Proletarier hat noch Klassenbewußtsein, die Zimmerwirtin  unangefochtene Autorität, Angestellte und Beamte erscheinen im Anzug zum Dienst, Kriegstraumata sind ein Massenphänomen, Hinterhöfe haben keinen Charme, und die Wahrscheinlichkeit ist größer, durch das soziale Netz zu fallen, als darin aufgefangen zu werden. 

Erhebliche Änderungen an Handlung und Figuren

Berlin 1929, Reichshauptstadt, „Spree-Chicago“, wie man damals sagte, und von den Regisseuren der neuen Serie „Babylon Berlin“, Tom Tykwer, Achim von Borries und Hendrik Handloegten, als eine Mischung aus Döblins „Berlin – Alexanderplatz“, Langs „Metropolis“ und Gotham City in Szene gesetzt. Jedenfalls wenn es Nacht wird und hier die dunklen Ecken bleiben und da das elektrische Licht angeht und sich das Personal von Unterwelt und Halbwelt und der biedere Bürger auf der Suche nach Ablenkung und Amüsement treffen. Tagsüber wirkt das Zentrum mit der Stadt dagegen fast ein bißchen geputzt, samt der „Roten Burg“, dem imposanten Klinkerbau, in dem die Berliner Kriminalpolizei ihr Hauptquartier hatte.

Die Rote Burg ist der Arbeitsplatz von Kommissar Gereon Rath (Volker Bruch), der Hauptfigur aus den Bestsellerromanen von Volker Kutscher, die „Babylon Berlin“ zugrunde gelegt wurden. Allerdings hat man sich für die Adaption ziemliche Freiheiten herausgenommen. Das ist erfreulich für manchen Kenner der Bücher, der neue Geschichten erwarten darf, allerdings auch irritierend, weil die Umformung Raths zum morphiumsüchtigen „Zitterer“ und die seiner Geliebten, der klugen Juristin Charlotte „Charly“ Ritter (Liv Lisa Fries) zur Gelegenheitssekretärin und -prostituierten und die des Chefs der „Mordinspektion“ Ernst „Buddha“ Gennat (Matthias Brandt) zum gepflegten Herrn ultramontaner Tendenz mit Bauchansatz doch sehr weit geht. 

Offenbar hat es die Regie darauf angelegt, die beiden Hauptfiguren gebrochener – und insofern „interessanter“ – darzustellen, als das Kutscher tat, während man die Einflechtung der historischen Person Gennat in das fiktive Geschehen für eine Nebensache hält. Kutscher hat gegen solche Mutationen seines Werkes hier offenbar so wenig einzuwenden wie im Fall der Comic-Bearbeitung (JF 15/17). Was dann auch den großzügigen Umgang von Tykwer, Borries und Handloegten mit dem Handlungsstrang seines Romans „Der nasse Fisch“ erklärt, der an mehreren, auch entscheidenden Stellen abgewandelt wird. Das gilt etwa bei der Verschiebung der Abläufe und Hintergründe in bezug auf die Machenschaften der „Schwarzen Reichswehr“ oder ein Massaker, das der sowjetische Geheimdienst unter kommunistischen Abweichlern mitten in Berlin anrichtet. 

Das gilt aber auch für die Darstellung des „Blutmai“, die bei Kutscher durchaus differenziert ausfällt, während man im Film den Eindruck gewinnt, es habe sich bei der illegalen Aktion der KPD um eine Art vorweggenommenes „’68“ gehandelt, das von faschistoiden Polizeikräften zusammengeschossen wurde. 

Fragwürdige Abmachung zur Ausstrahlung

Entscheidender für das Gesamtbild ist zuletzt die völlig veränderte Motivation für Raths Anwesenheit in Berlin. Sein Weggang aus dem heimatlichen Köln hat nichts mehr zu tun mit einem heiklen Mordfall oder dem von Kutscher betonten Dauerkonflikt zwischen Rath und seinem dominanten Vater, der auf dem Zentrumsticket in Rheinpreußen Karriere macht, sondern mit der Erpressung des amtierenden Oberbürgermeisters Konrad Adenauer, der auf irgendeine Weise in eine Affäre verwickelt ist, bei der es um Aufnahmen von Sadomaso-Spielchen geht, die in die Hände des organisierten Verbrechens gefallen sind.

Tykwer hat alle Eingriffe damit erklärt, daß er zwar Kutschers „Basis-Matrix sehr ernst genommen“ habe, aber der Film durch die Entdeckung von zusätzlichem Material zwangsläufig „ein gigantisches, immer weiter wachsendes Monster“ geworden sei. Dem Unterhaltungswert von „Babylon Berlin“ schadet das nicht. Der ist zudem garantiert durch die Anpassung an das neue Serienkonzept, das sich von der früheren Schlichtheit der Handlung und Eindimensionalität der Charaktere weit entfernt hat. Die Leistungen der Schauspieler werden außerdem gestützt durch die atemberaubende Ausstattung der Filme. Sie ist es, die ganz wesentlich zur Atmosphäre beiträgt, die den Zuschauer in Bann zieht und ihm einen Eindruck von Berlin als Zentrum wenn nicht der „Goldenen Zwanziger“, dann doch der „Roaring Twenties“ vermittelt. 

„Babylon Berlin“ ist mit rund 40 Millionen Euro die bis dato teuerste deutsche Fernsehproduktion, und die Investition hat sich gelohnt. Die Kostüme, die Details, der Aufwand bei der Gestaltung der historischen Kulissen – in Babelsberg wurde ein ganzer Straßenzug errichtet – suchen ihresgleichen. Offenbar hat man, was die Opulenz betrifft, bewußt an das amerikanische Muster angeknüpft, Serien mit einem Budget zu fertigen, das früher Hollywoodfilmen vorbehalten war. Daß der Bezahl-Fernsehsender Sky dazu mit der ARD zusammengearbeitet hat, ist sicher auch dem Trend geschuldet, spezifische Angebote für die verschiedenen größeren Märkte zu schaffen und sie nicht ausnahmslos mit amerikanischen Produktionen zu fluten. Man bietet dem anspruchsvoller gewordenen deutschen Serienpublikum eine der epischen Filmerzählungen, die Streamingdienste wie Amazon oder Netflix erfolgreich gemacht haben. Und das dahinterstehende wirtschaftliche Kalkül wird sicher aufgehen. Schon jetzt wurden die zwei Staffeln mit jeweils acht Folgen in mehr als sechzig Länder verkauft.

Warum allerdings die mit massivem Einsatz von öffentlichen Geldern und Rundfunkbeiträgen finanzierten Filme dem beitragszahlenden Konsumenten bis Ende nächsten Jahres vorenthalten werden und für Monate nur den Sky-Abonnenten zur Verfügung stehen, ist eine Frage, auf die man gern eine überzeugende Antwort hören würde.