© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

„Ein sehr schnell wirkender Klebstoff“
Boom bei Minijobs: Drei Millionen Menschen in Deutschland gehen mehr als einer Erwerbstätigkeit nach / Steuerliche Ungerechtigkeiten?
Christian Schreiber

Warum erreichte die SPD mit 20,5 Prozent ihr bisher schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl? Nicht nur, weil sie Arbeiter und Angestellte rechts liegenläßt, sondern Gesetze wie das „für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen“ durchgesetzt hat. Das FüPoG betrifft zwar nur weibliche Besserverdiener in bestenfalls hundert Unternehmen, aber es bringt Berufspraxis für unterschäftigte Sozialwissenschaftler, denn das Bundesfamilienministerium begleitet die Firmen „bei der Umsetzung der Quote, unter anderem mit einer Workshop-Reihe, in der es um die Entwicklung und Umsetzung von Zielgrößen im Betrieb geht“.

Starke Zunahme der Teilzeitbeschäftigung

Bei soviel Klientelpolitik blieb offenbar keine Zeit, sich mit jenen drei Millionen Menschen in Deutschland zu befassen, die mehr als einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Ihre Anzahl und ihr Anteil an allen Beschäftigten hat sich seit 2003 mehr als verdoppelt. Ursprünglich war die Einführung des Minijobs dazu gedacht, erwerbsschwächeren Personen ein steuerfreies Zubrot zu ermöglichen. Doch auch immer mehr Bürger nehmen eine zweite Stelle an, obwohl sie in ihrem Hauptberuf weit mehr als das Existenzminimum verdienen.

Von den geringfügigen Nebenbeschäftigungen auf 450-Euro-Basis profitieren laut einer aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) einerseits tatsächlich viele Arbeitnehmer, die das wenige Geld zumindest subjektiv betrachtet benötigen. Schließlich verdienten Menschen mit zwei Arbeitsplätzen in ihrem Hauptjob im Schnitt 570 Euro monatlich weniger als Beschäftigte mit nur einer Arbeit. Frauen und Personen in der Lebensmitte sind neben den Geringverdienern unter den Beschäftigten mit einer Nebenbetätigung überrepräsentiert.

Begünstigt werde die „Minijob-Explosion“ durch die anhaltend hohe Arbeitsnachfrage, die über viele Jahre hinweg schwache Lohnentwicklung sowie die starke Zunahme der Teilzeitbeschäftigung. Einen wesentlichen Impuls setzte zudem die Änderung, die geringfügige Beschäftigungen für die Arbeitnehmer von Steuern und Sozialabgaben freistellen. Eine Ausweitung der Erwerbstätigkeit durch Anreize zu belohnen sei zwar mit Blick auf die finanzielle Situation der Arbeitnehmer wie auch mit Blick auf Fachkräfteengpässe grundsätzlich richtig, finden die IAB-Autoren, die der Bundesagentur für Arbeit unterstehen, in ihrem Gutachten.

Zudem sei für Geringverdiener die Abgabenbelastung im internationalen Vergleich recht hoch. „Die Begünstigung einer zweiten Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber ist aber nicht das richtige Instrument, um hier gegenzusteuern. Erstens profitieren von der Regelung auch viele Gutverdiener. Zweitens leisten kleine Nebenjobs gerade für die Personen, für die es besonders wichtig wäre, kaum einen Beitrag für eine nachhaltige berufliche Entwicklung und Alterssicherung“, kritisiert IAB-Autor Enzo Weber.

Minijobs waren auch als Brücke für Frauen gedacht, um nach Phasen der Kindererziehung oder Erwerbslosigkeit wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Doch das funktioniert kaum: „Frauen, die einmal im Minijob waren, finden nur zu einem geringen Teil den Übergang in reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse“, hieß es bereits 2012 in der Studie des Familienministeriums zum Thema Frauen in Minijobs. Diese Tätigkeiten funktionierten nicht als Brücke, „sondern als sehr schnell wirkender Klebstoff“.

Für Weber setzt der Minijob oftmals falsche Anreize: „Vieles an dem Konstrukt ist nicht sinnvoll. Die allermeisten sind nicht in der Rentenversicherung, und die große Arbeitsmarktintegration oder berufliche Entwicklung findet über einen Nebenjob üblicherweise auch nicht statt.“ Zudem sei ein Zweitjob oft mit einem zusätzlichen Anfahrtsweg verbunden. Der entscheidende Punkt sei, daß Besserverdiener besonders stark von den Regeln zur geringfügigen Beschäftigung profitieren. „Wenn Sie schon sehr viel verdienen, zahlen Sie auf jeden zusätzlichen Euro 42 Cent Steuern, jemand der weniger verdient aber womöglich nur 20 Cent“, sagt Weber. Bei einem Minijob erhalten beide unabhängig von ihrem Steuersatz das gleiche.

Strengere Sozialversicherungspflicht

Natürlich verteuere es den Minijob, wenn diese Begünstigung abgeschafft würde, räumt das IAB-Papier ein. Und es könnte den Schwächeren im Arbeitsmarkt ihre Verdienstmöglichkeiten erschweren. „Deshalb sollte im Gegenzug Arbeit in der Hauptbeschäftigung gestärkt werden. Denkbar ist eine Entlastung niedriger Verdienste bei den Sozialabgaben“, regt Weber an. Da eine solche Entlastung auch zu sozialer Umverteilung führen würde, könnte sie über das Steuersystem organisiert werden.

Im Kern gehe es darum, daß sozialversicherungspflichtige Hauptjobs auch bei geringem Bruttolohn attraktiver werden: „Letztlich führt dies auch dazu, daß mehr solcher Jobs mit einer größeren Stundenzahl entstehen.“ Auch geringfügige Hauptbeschäftigungen könnten in sozialversicherungspflichtige umgewandelt werden. Damit wären die Bedingungen für Erwerbslose, Arbeit neu aufzunehmen, günstiger. „Insgesamt würden die Anreize für Arbeit in einer Hauptbeschäftigung steigen, die Bedingungen für eine stärkere Arbeitsmarktintegration der Beschäftigten würden sich verbessern“, so die IAB-Forscher – und damit wäre der „Minijob-Boom“, der nicht nur im Handel oder dem Gastgewerbe zu finden ist, wohl zu Ende.

Studie „Zweitbeschäftigungen in Deutschland – Immer mehr Menschen haben einen Nebenjob“ (IAB Kurzbericht 22/17):  doku.iab.de