© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

Größer, weiter, breiter
Städtewachstum: Vor allem Asien und Afrika zollen ihrem Bevölkerungszuwachs Tribut
Marc Zoellner

Wer mit dem Auto durch Jing-Jin-Ji fahren möchte, der sollte Geduld mitbringen: Unzählige Kilometer weit erstrecken sich hier, im fruchtbaren, vom milden Klima verwöhnten Flußbecken, wo der Jongding He in den Hai He mündet, Hochhausschluchten und modern konzipierte Wohnquartiere. Nahtlos schließen sich an diese Industriezonen an. Gewerbeviertel, die dank der günstigen Anbindung des öffentlichen Personennahverkehrs von ihren Angestellten mit der Effizienz eines Uhrwerks erreicht werden können. In Jing-Jin-Ji sind Staus und Verzögerungen nicht eingeplant. Immerhin ist diese Stadt einer der drei wichtigsten Motoren ihres Landes – und trotz ihrer gewaltigen Größe in Europa noch nahezu unbekannt.

Moderne Städte, aber auch Slums und Favelas

Denn eigentlich ist Jing-Jin-Ji ein Akronym gleich dreier Städte und Provinzen: Zumindest noch. In Jing-Jing-Ji vereinen sich die Namen der Metropole Peking (Jing), der Hauptstadt der Wirtschaftsgroßmacht China, sowie Tientsin (Jin), Pekings wichtigster Hafenanbindung an das Gelbe Meer, und ebenso die umliegende Provinz Hebei (Ji). Allein Tientsin ist fast halb so groß wie Mecklenburg-Vorpommern; Peking noch einmal so ausgedehnt wie Schleswig-Holstein (15.800 Quadratkilometer).

Bis 2020, so der Wille der chinesischen Staatsführung, werden sich alle drei Verwaltungseinheiten in ihrem Bebauungsareal vereint haben: In der größten, jemals von Menschen errichteten Stadt der Weltgeschichte – in Jing-Jin-Ji, dessen 216.000 Quadratkilometer Siedlungsfläche Heimat von über 130 Millionen Menschen würden. 

Exemplarisch steht Jing-Jin-Ji dabei für ein gravierendes Problem, an dessen Lösung nicht nur das Wirtschaftswunderland China bislang zu verzweifeln drohte: die rasant fortschreitende Verstädterung großer Teile der Welt. Insbesondere die ökonomisch aufstrebenden Staaten der asiatischen Ost- und Südküste, aber auch Ägypten und Schwarzafrika zeigen sich besonders davon betroffen. 

Anhaltend hohe Geburtenraten gehen hier einher mit dem Wandel ganzer Volkswirtschaften – fort vom Agrarsektor und hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Ein Wandel, welchen auch Deutschland einst im Zuge der Industrialisierung vollzog – der heutzutage in der Dritten Welt allerdings deutlich schneller und vor allem unkontrollierter vonstatten geht. Der fortwährende Zuzug ländlicher Bevölkerung in die Metropolen ihrer Staaten stellt eine globale Mobilitätsspirale dar.

„Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heutzutage bereits in Städten“,  bilanzierte zuletzt die Allianz-Versicherungsgruppe in einem Strategiepapier. „Und der Verstädterungstrend hält an. Im Jahr 2030 werden es bereits zwei Drittel sein.“ In Europa, errechnete der Münchner Konzern, würden in zwei Jahrzehnten bereits drei von vier Bürgern in Städten leben – in Lateinamerika 80 Prozent und in Nordamerika, in Kanada und den Vereinigten Staaten, gar ganze 82 Prozent. 

Zum Vergleich waren es im Jahre 1800 weltweit gerade einmal drei Prozent. Und während sich um 1950 nur 83 Städte mit mehr als einer Million Einwohnern rund um den Erdball verstreut fanden – die größte europäische davon London mit damals gut fünf Millionen Bürgern –, sind es den Vereinten Nationen zufolge im Jahr 2016 bereits 512 Städte. 

In den kommenden fünfzehn Jahren, so die UN, würden noch einmal gut 150 Städte in diese Rangliste hinzustoßen.

Größer, weiter, breiter: Dem weltweiten Städtewachstum scheinen im 21. Jahrhundert keine Grenzen mehr gesetzt zu sein. In Schwarzafrika, wo derzeit die beiden Kongo-Hauptstädte Kinshasa und Brazzaville zusammenwachsen, nicht einmal mehr jene der betroffenen Nationen. Dramatische Folgen für den Alltag sowie die Lebensqualität bleiben dabei nicht aus. Smog und Müllberge, die Verschmutzung von Luft und Wasser, sind signifikante Begleiterscheinungen unkontrollierter Verstädterung. Und ebenso die Ausbildung von Slums und Favelas, von Armensiedlungen ohne eigenständige Infrastruktur und ökonomische Anbindung, welche speziell in den afrikanischen Ländern überhandzunehmen droht. 

Lagos (Nigeria) wird Einwohnerzahl verdoppeln 

Schon jetzt prägen Slums gut die Hälfte des Städtebilds der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Und in Malawi, Uganda und Äthiopien, mahnt der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA), lebten derzeit bereits über 90 Prozent der Städter in von Armut, Krankheit und Gewalt geprägten Quartieren. Im Jahre 2030, so der UNFPA, werden weltweit gar über zwei Milliarden Menschen die Slums der Metropolen ihr Zuhause nennen müssen.

„Verstädterung – der Anwuchs städtischer Bevölkerung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung – ist unumgänglich, aber auch positiv“, wagen die Sozialwissenschaftler des UN-Treuhandfonds dennoch zu ermutigen. „Die derzeitige Konzentration von Armut, Slumwachstum und gesellschaftlichem Auseinanderdriften malt ein erschreckendes Bild: Doch kein einziges Land hat im industriellen Zeitalter je ein merkbares wirtschaftliches Wachstum ohne Verstädterung erzielt. In Städten konzentriert sich die Armut; doch sie verkörpern auch die beste Hoffnung, dieser Armut zu entkommen.“

Megastädte, so nennt die Sozialwissenschaft diese rasant gewachsenen Agglomerationen an Wohn- und Industriegebiet. Speziell sind hierbei Städte mit einer Einwohnerzahl von über zehn Millionen Menschen bedacht. Mit New York und Tokio gab es 1950 gerade einmal zwei davon. 2016 existierten nach Angaben der UN bereits 31 dieser Megastädte – mit knapp über 500 Millionen Einwohnern. Bis 2030, prognostizieren die UN, kämen noch einmal sechs Megastädte hinzu. Demnach wird Delhi von 26 Millionen (2016) auf 36 Millionen Einwohner (2030) anwachsen. Shanghai von 24,4 auf 30,8 Millionen. Die Anzahl der Einwohner der nigerianischen Stadt Lagos steigt gar von 13,7 auf 24,2 Millionen. Mit Moskau (12,2 Millionen), Paris (11,8) und London (11,5 Millionen) finden sich in Europa hingegen auch 2030 gerade einmal drei Megastädte.

Was sie alle eint, neben der herausragend hohen Einwohnerzahl, sind besonders ihre gravierenden Umwelt- und Logistikprobleme: Staus auf den Straßen und Autobahnen, ein überfrachtetes öffentliches Transportwesen, eine Dunstglocke aus Verkehrs- und Industrieabgasen, welche die Städte gerade im Sommer wie eine undurchdringliche Kuppel zu ersticken droht. Und daraus resultierend ihre unnatürliche Wärmeentwicklung, die nicht nur Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen überproportional begünstigt, wie die Mediziner Ashley Jowell und Bright Zhou kürzlich in der Fachzeitschrift The Lancet berichten. Ein weiteres atmosphärisches Phänomen nenne sich „städtischer Wärmeinseleffekt“, durch welchen es in Megastädten oftmals um fünf bis elf Grad wärmer sei als in den umliegenden Gebieten, konstatieren die Wissenschaftler der Universität Stanford. „Diese erhöhten Temperaturen können zu vermehrter Nutzung von Kühlsystemen führen, die ihrerseits wiederum Treibhausgase in die Atmosphäre abstoßen und den städtischen Wärmeinseleffekt dadurch noch verschärfen.“

Derartige Probleme kennen auch Chinas Städteplaner zur Genüge. „Pekings Luftverschmutzung, seine Wasserknappheit, die Verkehrsstaus und andere städtische Unpäßlichkeiten sind das Resultat davon, daß Peking zu viele städtische Funktionen übernommen hat, die nicht wichtig für eine Hauptstadt sind“, erklärt He Lifeng, seit Februar dieses Jahres Direktor der Staatlichen Kommission für Entwicklung und Reform (NDRC). 

He Lifeng gilt als Vordenker der Pläne Pekings zur Errichtung der weltweit ersten Gigastadt – einer Stadt mit mehr als einhundert Millionen Einwohnern – und ebenso des Ausbaus ihrer ersten Etappe: der am 1. April dieses Jahres gegründeten neuen Verwaltungszone Xiongan, rund einhundert Kilometer südwestlich von Peking gelegen und in den kommenden Jahren für die Errichtung einer neuen, „intelligent geplanten“ Stadt vorgesehen, wie die KP China ihr Projekt zu lobpreisen versteht.

Umgerechnet gut 19 Milliarden US-Dollar investierte die staatliche China Development Bank seitdem in den Ausbau dieser auf dem Reißbrett entworfenen Metropole. Privatpersonen bleibt eine Kapitalanlage in dieser Stadt allerdings verboten: Und das trotz gewaltiger Nachfrage seitens der Bevölkerung. „Binnen 24 Stunden nach der Ankündigung, daß die Regierung in der Provinz Heibei Xiongan erschaffen würde, drängten Horden von potentiellen Käufern in die Region“, berichtete Anfang April die Nachrichtenagentur Bloomberg. „Autobahnen waren verstopft, als die Leute kamen, um Grundstücke zu erwerben, und manche schliefen sogar über Nacht vor den Büros der Grundstücksmakler. Einen Tag später verbot die Regierung sämtliche Grundstücksverkäufe, um Spekulationen vorzubeugen.“

Anekdoten wie diese verdeutlichen, welche Hoffnung viele Chinesen mit He Lifengs Xiongan verbinden: jene vom Ausbruch aus dem engen Moloch ihrer Behausungen in Peking und Tientsin, und ebenso das Wissen um die Notwendigkeit solcher Mammutprojekte für das Vorankommen Chinas als urbanisierte Wirtschaftsmacht. 

Provinz gerät mehr und mehr ins Hintertreffen

Denn immerhin wanderten allein in den letzten 35 Jahren rund eine halbe Milliarde Chinesen aus den ländlichen Gebieten in die Großstädte Chinas. Ein Trend, dem die kommunistische Führung jahrelang blind gegenüberstand – und der sich besonders an der Peripherie der kapitalstarken Zentren mit den Arbeiter- und Armenvierteln der Städte bald bitter in Unmut und Forderungen nach politischen Reformen hätte rächen können.

Nun geht alles plötzlich schnell: Mit Jing-Jin-Ji stampft China eine Stadt modernster Infrastruktur von der Einwohnerzahl der beiden Länder Deutschland und Spanien zusammengenommen aus dem Boden. Auch Hongkong, Wuhan und Shanghai sollen jetzt laut Order des Staatsrats Cluster ausbilden, um sich mit den angrenzenden Städten ihrer Region zu vereinen. Insgesamt, so die Vorstellung der Kommunistischen Partei, würden um 2030 in den fünf neu entstehenden Gigastädten Chinas bis zu eine halbe Milliarde Menschen unterkommen – samt neuer Industrie- und Verwaltungsquartiere für Chinas zweiten großen Sprung nach vorn. 

Kritiker allerdings warnen vor den Folgen der massiven Verstädterung für Mensch und Umwelt und ebenso vor jenen der bevorzugten Behandlung der Küstenregion: Denn der in den Gigastädten erwirtschaftete Wohlstand, sind Experten sich sicher, käme auch weiterhin nicht im Westen Chinas an – in den abgelegenen Provinzen von Tibet und Xinjiang, deren strukturelle Armut auch künftig Heerscharen junger Männer und Frauen in die Großstädte des Osten treiben wird, um eben jene Spirale von Wohnungsnot und ungezügelter Verstädterung erneut anzutreiben, welcher China derzeit noch einmal glimpflich zu entkommen versucht.