© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

Die Erinnyen geben keine Ruhe
Rechts von der Lindenstraße: Die vorherrschenden politischen Kategorien greifen nicht mehr
Thorsten Hinz

Die Damen und Herren vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die auf der Frankfurter Buchmesse mit Plakaten gegen die „Neue Rechte“ demonstrierten– sie wirkten wie eine Karikatur des Erinnyenzugs aus Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“. Darin umschreiten die Schutzgöttinnen der sittlichen Ordnung das Theaterrund und stimmen im Gedenken an den gemordeten Sänger ihren Rachegesang an, der dem Publikum heilige Schauer über den Rücken jagt und die Übeltäter am Ende zu Boden zwingt.

Der Frankfurter „Demo-Spaziergang“ aber, mit dem die Organisatoren, wie es im Börsenblatt hieß, „Flagge zeigen“ wollten, erschütterte höchstens wegen seiner Einfalt. Die Beteiligten wußten nicht einmal, daß jeder rechte Ethnopluralist die Losungen „Freiheit und Vielfalt“ und „Gegen Rassismus“ freudig unterscheibt. Über diesen Aufmarsch des Guten ist bereits in Sebastian Brants „Narrenschiff“ alles gesagt: „Im Narrentanz voran ich geh,/ denn ich viel Bücher um mich seh,/ die ich nit les und nit versteh.“

Der Kulturbetrieb hat sich lächerlich gemacht. Doch er hat auch seine bösartige Seite gezeigt. Der Geschäftsführer des Börsenvereins, Alexander Skipis, hatte eine „aktive Auseinandersetzung“ mit den „rechten“ Verlagen angekündigt und deren Adresse angegeben, worauf prompt an zwei Ständen nächtliche Beschädigungen und Diebstähle folgten. Eine indirekte Mitwirkung durch Wegweisung darf man wohl unterstellen. Ähnlich verhielt es sich beim Auftritt verhetzter Kinder dieser Republik, die mit Schrei-Attacken die Buchvorstellung des Antaios-Verlages störten. Ermuntert wurden sie dazu von Messeleiter Jürgen Boos, der erklärte, daß er die Meinungsäußerungsfreiheit der Brüller ebenso hoch gewichte wie die Lesung im Rahmen des bezahlten Forums. 

Gewiß wurde der Börsenverein von mehreren Seiten massiv unter Druck gesetzt, doch das ist kein Grund, über Leute wie Boos und Skipis gnädiger zu urteilen als über subalterne Kulturfunktionäre in der DDR, die stets die Hand zur Maßnahme reichten, wenn es galt, das freie Wort zu unterdrücken.

Blamiert hat sich auch die Zivilgesellschaft. In Gestalt der von der früheren Stasi-Informantin Kahane geleiteten Amadeu-Antonio-Stiftung war sie mit einem Beobachtungsstand vis-à-vis zu einem rechten Observationsobjekt ausgestattet worden. Eine Einladung zum öffentlichen Streitgespräch lehnte die Stiftung unter Ausflüchten ab. Offensichtlich fühlte sie sich einer Auseinandersetzung auf Augenhöhe nicht gewachsen. So wurde die Szene auch für die Zivilgesellschaft zu einem desaströsen Tribunal.

Das sieht man – und das ist neu und bemerkenswert – auch in fast allen Medien so. Der Literaturredakteur der taz konstatierte den „Worst Case“ (Supergau) und warf dem eigenen Lager Demagogie, Verbotsgelüste, Mangel an Argumenten und rechtsstaatlichen Prinzipien vor. „Nennt mich Liberalala, aber so sind die anstehenden diskursiven Auseinandersetzungen mit der Neuen Rechten nicht zu gewinnen.“ Das Neue Deutschland sah in Frankfurt gar einen Kampf „um die Deutungshoheit über die Geschichte und die Gegenwart, über Deutschland und Europa“ toben und fragte entgeistert: „Wieso gelang es Rechtsradikalen, die Buchmesse zu prägen?“

Eine Antwort haben vorab der Historiker und Romanautor Per Leo, der Jurist Max Steinbeis und der Philosoph Daniel-Pascal Zorn in ihrem Buch „Mit Rechten reden“ zu geben versucht. Die Rechte, meinen sie, übe sich geschickt in der verbalen Provokation. Sie kalkuliere die empörte Reaktion der Gegenseite – vulgo: die Nazikeule – ein, die auch prompt niedersause. Darauf folge die nicht minder empörte Klage der Rechten über das absichtsvolle Mißverstehen und Ausgrenzung, und nach einem raschen Stellungswechsel beginne das Sprachspiel von vorn. 

Der grundsätzliche Einwand dagegen lautet, daß die Autoren das Sprachspiel als Interaktion zweier gleichgestellter Kontrahenten beschreiben und die Machtverhältnisse im Politik-, Medien- und Kulturbetrieb und die unterschiedlichen materiellen Ressourcen außer acht lassen. So fällt es ihnen leicht, die Rechte als Versammlung „aggressiver Jammerlappen“ und „unerlöster tatbereiter Opfer“ abzutun und ihnen im Gestus der Überlegenheit „die simple Frage“ vorzulegen, „warum für uns gelten soll, was ihr nur fühlt“?

Man könnte sprachspielerisch die Gegenfrage stellen, warum es ein paar Neurotikern und sich selbst ausbeutenden Spinnern so leicht gelingt, so viel Aufruhr erzeugen? Warum eine angeblich mit sich selbst zufriedene Gesellschaft nicht über genügend innere Souveränität verfügt, um das rechte Gequengel einfach zu ignorieren?

Eine Meldung aus den letzten Tagen – eine von Dutzenden und Aberdutzenden – gibt einen Hinweis: Am Ebertplatz in Köln mußte ein ZDF-Team die Dreharbeiten zur Krimi-Serie „Heldt“ abbrechen, weil es zu Übergriffen durch Dealer und Junkies gekommen war. Fast parallel dazu hatte dort auch eine tödliche Messerattacke stattgefunden. „Eine No-go-Zone im Herzen von Köln“, lauteten die Schlagzeilen.

Was war passiert? Die „weltoffene“ Lindenstraßen-Republik hatte einen vergleichsweise harmlosen, doch prominenten Zusammenstoß mit der multitribalen Gesellschaft erlebt, die aus ihrem Schoß hervorgekrochen ist. Sie ist keine Sturzgeburt nach einer verheimlichten Schwangerschaft, sondern die Frucht von jahrzehntelanger öffentlicher Unzucht, auf die die Rechten und Konservativen – diese verklemmten Spaßbremsen aber auch! – so lange wie vergeblich aufmerksam gemacht haben.

Der DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin antwortete 1992 auf die Frage nach Gründen für den gescheiterten Sozialismus, die wesentliche Ursache sei „die Absage an die Wahrheit“ gewesen: „Der Kommunismus bediente sich einer Strategie, die auf Lüge und Selbstbetrug aufgebaut war (…) Diese Leute logen, weil das gegenseitige Belügen zu einem Grundsatz des Systems geworden war.“ 

Die maßgeblich von deutschen Theoretikern entworfene sozialistische Utopie, die ursprünglich ein Paradiesgarten mit Brot und Rosen, Schönheit, Lust und Zuckererbsen gewesen war, verendete so im „Sozialismus in den Farben der DDR“, die zwischen Asch-, Maus- und Mauergrau changierten. Zwar konnte die SED bis zum Schluß die offiziellen Diskurse bestimmen, aber sie konnte nicht erzwingen, daß die Menschen noch an das glaubten, was diese Sprache transportierte. Die SED und die Stasi verfügten über keine kulturelle, sondern nur über die politisch-administrative und die mediale Hegemonie, an der sie in ihrer Verunsicherung um so entschiedener festhielten. Am Ende bedeuteten sie – nichts!

Die aktuelle Reizbarkeit durch rechte Sprachspiele kommt gleichfalls aus dem Mangel an innerer Souveränität, aus der Verunsicherung darüber, daß die gebräuchlichen politischen Kategorien und Sprachmuster mit der Wirklichkeit immer weniger tun haben. Der „Kampf gegen Rechts“, das infantile Gestammel à la „Bunt statt braun“, über die „Willkommenskultur“ und die „Integrationsgesellschaft“ können das intellektuelle, moralische und weltanschauliche Vakuum nicht füllen. Diese Diskurse haben nach wie vor Einschüchterungsmacht, aber keine echte Überzeugungskraft mehr. Die „Tagesschau“ ist nicht deswegen mächtig, weil man ihr glaubt, sondern weil der politisch-mediale Komplex durch sie verkündet, was die Menschen glauben sollen und wie sie sich äußern dürfen, wollen sie nicht ins gesellschaftliche und soziale Abseits geraten.

Unterdessen breitet sich der Multitribalismus mit seinem inhärenten Gewaltpotential und seiner Deutungsmacht aus. Der afrikanische „Schutzsuchende“, der über sein Vergewaltigungopfer äußert: „Wenn das Gericht sagt, daß die DNA paßt, muß ich das Mädchen eine Prostituierte nennen“, symbolisiert die sich vertiefenden Kulturbrüche in der Gesellschaft und, damit verbunden, eine effektive Freund-Feind-Konstellation, welche die „Rechte“ sich nicht ausgedacht hat. Die Rechten sprechen nur die von der „Lindenstraßen“-Gesellschaft verdrängten Ängste und Gefahren aus; sie sind die Erinnyen, die keine Ruhe geben!

Die einen rufen gegen sie, gegen die Verunsicherung und den eigenen Bedeutungsverlust die Antifa-Schläger und linken Schreier zu Hilfe. Andere beginnen in sich zu gehen. Und die Rechte? Sie wird beweisen müssen, daß das, was sie zu sagen hat, nicht nur einem Gefühl, sondern einem besseren Wissen, einem schärferen Durchblick und – auch das! – einem lebendigeren Instinkt entspringt.

Per Leo/Maximi-lian Steinbeis/Daniel-Pascal Zorn: Mit Rechten reden. Ein Leifaden, Klett-Cotta, Stuttgart 2017, broschiert, 183 Seiten, 14 Euro