© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

Mit Luther leben
Bilanz: Das Reformationsjubiläum hat keinen bleibenden Eindruck hinterlassen / Ausnahme ist eine Ausstellung in der Lutherstadt Wittenberg
Karlheinz Weißmann

Das Reformationsjubiläum geht seinem Ende zu. Der 500. Jahrestag des Thesenanschlags vom 31. Oktober 1517 war Anlaß für einige Kongresse und viele feierliche Reden, Happenings und szenische Darstellungen, Ausstellungen und Filme, eine mittlere Bücher- und Aufsatzflut, Luther im Warhol-Stil oder klassisch, als Figürchen von Playmobil oder aus dem Erzgebirge, als Werbeträger für Bier, Schnaps, Likör, Brot und Pastillen. Trotzdem hat das Geschehen keinen tieferen Eindruck hinterlassen.

Dafür gibt es verschiedene Ursachen: die Säkularisierung der Gesellschaft und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust des Christentums im allgemeinen, der evangelischen Konfession im besonderen; die Scheu der Kirche, die Person Luthers entschieden in den Mittelpunkt zu stellen, aus lauter Sorge, man werde sie des Heldenkultes verdächtigen; die Lustlosigkeit der akademischen Theologie, der zum Thema wenig bis gar nichts einfiel, und die fehlende Bereitschaft, den Einfluß des Erbes der Reformation auf unsere Geschichte tatsächlich auszuloten.

Der letzte Vorwurf trifft allerdings nicht zu für die staatliche Ausstellung im Lutherhaus zu Wittenberg. Unter dem Titel „95 Schätze – 95 Menschen“ werden dem Betrachter zwei Aspekte der lutherischen Tradition nahegebracht, für die das Sensorium eigentlich ganz verlorengegangen schien. Da ist zum einen die Rekonstruktion der Glaubenswelt, in der Luther groß geworden ist und in der er lebte. Das fängt an mit Relikten der Volksfrömmigkeit, die seine Eltern, aber auch ihn selbst in seinen Anfangsjahren prägte. Das geht weiter mit Stücken, die sich auf das Leben des Mönchs und Professors beziehen. Selbstverständlich gibt es einen Druck der „95 Thesen“ und auch den ältesten Beleg für deren Anschlag (eine handschriftliche Notiz von Luthers Sekretär Georg Rörer), alle möglichen Dinge, die mit der Bibelübersetzung und der Erneuerung der Kirche zu tun hatten, mit Luthers persönlichem Glauben und seinem Wirken, dem Einfluß auf seine Umwelt und seinen Nachruhm.

Erinnerung an Jochen Klepper 

Erstaunlich ist dabei, welche interessanten Exponate in Wittenberg zusammengekommen sind, obwohl die Konkurrenz zu den beiden anderen nationalen Ausstellungen – auf der Wartburg und im Deutschen Historischen Museum in Berlin – scharf gewesen sein dürfte. Ein Problem, das sich im Hinblick auf den zweiten Teil der Ausstellung nicht gestellt haben wird. Denn was man nach den „95 Schätzen“ unter der Überschrift „95 Menschen“ präsentiert, umfaßt ein Spektrum, das mit dem, was Museen üblicherweise zeigen oder was der Interessierte üblicherweise mit der Person Luthers oder der Reformation verknüpft, relativ wenig zu tun hat.

Irritation gehört zwingend zum Konzept, das man im Lutherhaus verfolgt. Und sie beginnt schon beim Betreten des Hauptraums, wenn den Besucher die Musik zu den Winnetou-Verfilmungen der sechziger Jahre begrüßt. Im Hintergrund sieht er bereits die Silberbüchse und kann sich dann über Karl Mays Religiosität informieren, die trotz individueller seltsamer Züge ausgesprochen lutherisch geprägt war.

Derartige Mutationen spielen auch sonst eine Rolle, ohne daß die Ausstellung zu einer Sammlung von Bizarrerien würde. Es geht vielmehr darum, verschiedene Facetten der Wirkung des „Lutherischen“ zu fassen. Da kommt das Naheliegende in den Blick, zum Beispiel der Pietismus und dessen pädagogische Leistung, weiter die damit zusammenhängende preußische Pflichtauffassung. In Wittenberg hat man als deren Sinnbild einen Stuhl aus dem Tabakskollegium Friedrich Wilhelms I. aufgestellt, und in unmittelbarer Nähe findet sich eine Vitrine zur Erinnerung an den Schriftsteller Jochen Klepper. Klepper hatte mit seinem biographischen Roman „Der Vater“ dem „Soldatenkönig“ ein Denkmal gesetzt. Auch seine Frömmigkeit war lutherisch, was erklärt, warum er sich Ende der dreißiger Jahre an ein weiteres Buch machte, das den Titel „Das ewige Haus“ tragen und das evangelische Pfarrhaus behandeln sollte. Die Feder, mit der er das Manuskript geschrieben hat, ist in Wittenberg zu sehen.

Klepper konnte das Werk allerdings nicht vollenden. 1942 nahm er sich mit seiner jüdischen Ehefrau das Leben. Eine Handlungsweise, die auf den ersten Blick so quer zum üblichen Luthertum steht wie der Widerstand Henning von Tresckows, der zu den Männern des 20. Juli gehörte. Dessen Obrigkeitstreue fand ihre Grenze eben darin, daß der Christ Gott mehr gehorchen muß als den Menschen.

Martin Mosebachs Traum von Deutschland

Man könnte mit dieser Aufzählung noch lange fortfahren und würde kaum zu Ende kommen bei den Entdeckungen, die in Wittenberg zu machen sind. Viele erscheinen auf den ersten Blick ganz unspektakulär: der antiquierte Kassettenrekorder, mit dem eine Pastorin ihre Predigten vorbereitet, das Bekenntnis einer Missionarin aus Schwarzafrika, die Übersetzung der Werke Luthers ins Koreanische, der Hinweis auf die weltweit ausgestrahlte Radiosendung „Die lutherische Stunde“, das Bekenntnis einer zeitgenössischen Schriftstellerin wie Sibylle Lewitscharoff zum „dunkeldrohenden Saftdeutsch“ Luthers. Aber sie wirken immer aufschließend. Sie zeugen von einem reichen Erbe, das Stück für Stück verlorenzugehen droht, nicht zuletzt weil diejenigen, die als „Lutherische“ berufen wären, es zu wahren, das nicht tun.

Dagegen sieht manch anderer von außen sehr klar, worum es hier im Kern geht. In einem Beitrag für den vorzüglichen Katalog der Ausstellung beschreibt Martin Mosebach seinen eigenen Weg aus dem Protestantismus hin zum Katholizismus und gibt doch die unlösbare Verbundenheit zu, „denn ein Deutscher muß mit Luther leben“, und weiter: „Mein Traum von einem Deutschland ohne Luther ist deshalb seltsam substanzlos, es wäre ein Deutschland ohne Goethe und Hölderlin, ohne Johann Sebastian Bach und ohne Richard Wagner, ohne Hamann und Nietzsche. Und wenn mir die protestantische Kultur auch zutiefst fremd geblieben ist, wenn ich mich ihr auch nicht zugehörig fühle, so muß ich doch vor dem Faktum kapitulieren, daß dies Fremde zugleich ein Teil von mir ist.“ 

Die Ausstellung ist noch bis zum 5. November in der Lutherstadt Wittenberg im Augusteum, Collegienstraße 54, zu sehen. Der Ausstellungskatalog (Hirmer-Verlag) mit 625 Seiten und etwa 335 farbigen Abbildungen kostet im Museum 29,90 Euro.

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