© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/17 / 03. November 2017

„Von Beginn an verbrecherisch“
War der Bolschewismus eine Befreiungsbewegung? Der Kommunismus emanzipatorisch? Dessen Gewalt nur Beiwerk? Solche Irrtümer revidiert zu haben ist auch Verdienst des US-Historikers Richard Pipes, einem der renommiertesten Experten für die Oktoberrevolution
Moritz Schwarz

Herr Professor Pipes, war die Oktoberrevolution ein emanzipatorisches Ereignis?

Richard Pipes: Nein, ganz bestimmt nicht, im Gegenteil.

Inwiefern? 

Pipes: Sie hat die Menschen nicht befreit oder emanzipiert, sondern versklavt. 

Warum wird sie dann heute noch vielfach so betrachtet – trotz häßlicher Begleitumstände wie Verfolgung und Diktatur? 

Pipes: Jeder, der heute noch glaubt, das russische Volk hätte durch den bolschewistischen Umsturz eine Verbesserung seiner Lage erfahren, weiß nicht, wovon er redet. Die Russen wurden dadurch keineswegs zu „Bürgern“, sie blieben Untertanen – sogar mehr denn je zuvor.

Aber vor der Oktoberrevolution war Rußland politisch, gesellschaftlich, ökonomisch rückständig. Danach begann in all diesen Bereichen eine „Modernisierung“.

Pipes: Moment, Sie unterschlagen da etwas, nämlich die Revolution von 1905. Seit dieser kann man in bezug auf Rußland nicht mehr von einem „Ancien Régime“ sprechen. Vielmehr war es von nun an ein Land im Übergang – noch halb veraltet, aber auch schon halb erneuert. So gestand der Zar Grundrechte und ein Parlament, die Duma, zu. Die Emanzipation hat also 1905 und nicht 1917 begonnen – damals endete sie vielmehr schon wieder, nämlich in der bolschewistischen Diktatur.

War diese – ebenso wie Gewalt, Mord und Verfolgung – tatsächlich nur ein häßlicher Begleitumstand, wie manche meinen, oder war dies das Wesen der Revolution?

Pipes: Nun, die Oktoberrevolution – also die unmittelbare Machtergreifung – vollzog sich in Wirklichkeit ja weitgehend gewaltlos: Den „Sturm“ auf das Petersburger Winterpalais, so wie später in Propagandafilmen als Volksaufstand dargestellt, hat es nicht gegeben. Die gesellschaftliche Revolution aber, die nach der Machtergreifung begann, war dagegen äußerst gewaltsam. Jeder konnte von nun an in Verdacht geraten und „verschwinden“.

Aber stand im Zentrum des bolschewistischen Bestrebens nicht dennoch die Modernisierung der Gesellschaft? 

Pipes: Da irren Sie sich gründlich, für die Bolschewisten standen Macht und Herrschaft im Mittelpunkt.

Vor allem Ihre Studie „Rußland vor der Revolution“ (1974) gilt der Geschichtswissenschaft heute als Klassiker und löste auch Debatten aus. In Deutschland allerdings wurden Sie trotz Lob – „klug und eigenwillig, glanzvolle Diktion, brillantes Zeugnis narrativer Geschichtsschreibung“, so etwa die „Zeit“ – auch scharf kritisiert. Ihr mehrbändiges Monumentalwerk „Die Russische Revolution“ (1990 bis 1993) stand im Schatten, weil Sie hierzulande als eine Art Rechter angesehen wurden, da sie die Regierung von US-Präsident Ronald Reagan beraten hatten. Sind Sie ein Rechter?

Pipes: Ich bin ein Konservativer. Und ja, ich war auch Regierungsberater. Aber ich frage mich, was hat das mit meiner Arbeit als Historiker zu tun? Ich halte den Kommunismus für eine verbrecherische Fehlkonstruktion, verdammt dazu, zu kollabieren. Das sage ich aber nicht, weil ich einen konservativen Standpunkt habe, sondern weil die historischen Fakten zu diesem Resultat führen. 

In Deutschland gelten rechte Historiker oft als voreingenommen, ehemals linke dagegen – am besten waren sie früher selbst mal Kommunisten – durchaus als vertrauenswürdig.   

Pipes: Warum sollte das per se so sein? Und natürlich können linke Historiker ebenso voreingenommen sein. Letztlich aber ist die Frage doch nicht, ob ein Historiker links oder rechts ist, sondern ob seine Arbeit überzeugt. 

Der Tübinger Historiker und deutsche Oktoberrevolutionsexperte Dietrich Geyer beschreibt einen der Angelpunkte Ihres Werkes so: „Den Urgrund der russischen Tragödie sieht Pipes nicht im Entschluß zum Krieg, auch nicht im Versagen des Zaren (...) Rußlands Unglück beginnt mit der Geschichte (seiner) Intelligenz (...) der Idee, aus dem russischen Muschik den ‘neuen Menschen’ zu machen. Der Bolschewismus sei das verhängnisvollste Produkt dieser Obsession.“ Und tatsächlich schreiben Sie, die Oktoberrevolution „ist weniger das Ergebnis von unerträglichen Bedingungen, (als) von unversöhnlichen Einstellungen“ gewesen. Waren wirklich nicht in erster Linie die materiellen Verhältnisse Ursache der Revolution, sondern die ideologische Aggressivität der Revolutionäre?      

Pipes: Ja, es war die Unversöhnlichkeit einiger Intellektueller, die das Land unter eine Herrschaft brachte, die in einem Ausmaß repressiv war, wie es Europa zuvor noch nicht erlebt hatte. 

Warum waren die Intellektuellen dieser Zeit in solch besonderem Ausmaß „unversöhnlich“? 

Pipes: Moment, nicht „die“ Intellektuellen. Tatsächlich war ihre Mehrheit sogar politisch gemäßigt. Vielmehr handelte es sich um eine Minderheit – die der bolschewistischen Intellektuellen. Und nicht nur, daß die Bolschewisten bei den Wahlen 1917 lediglich ein Viertel der Stimmen bekamen, sie erhielten diese zudem auch nicht, weil ihre Wähler ihre radikale Ideologie teilten. Sondern weil die Russen den Krieg satt hatten und die Bolschewisten dessen Ende versprachen. 

Mit Blick auf einige Ihrer Kollegen haben Sie gefordert, sich „aus einer geistigen Zwangsjacke (zu befreien), in die die Zunft seit siebzig Jahren durch eine politisch gelenkte Geschichtsschreibung gesteckt worden ist“. Was konkret haben Sie damit gemeint?

Pipes: Viele Historiker wollten sich das Ausmaß der Gewalt und der Unterdrückung, das die Bolschewisten entwickelten, nicht voll und ganz eingestehen. Ich dagegen habe immer versucht, das sichtbar zu machen. Das bolschewistische System war eben nicht nur begleitet von Gewalt, es war an sich extrem gewaltsam. Ich widersprach damit übrigens auch der damals verbreiteten Auffassung, daß es sich bei der Oktoberrevolution und beim Bolschewismus um eine Befreiungsbewegung gehandelt habe. Ich widersprach dem, indem ich das Ausmaß der Diktatur herausgearbeitet habe, indem ich auf die Opfer hingewiesen habe, indem ich deutlich gemacht habe, was die bolschewistische Herrschaft denn tatsächlich für die Russen bedeutet hat. Denn immer wieder wurde die Meinung vertreten, die Unterdrückung sei nur Stalin anzurechnen. Nein, schon Lenin betrieb sie von Anfang an! 

Warum gilt der Kommunismus dann vielen Menschen auch heute noch als eine an sich gute Idee?

Pipes: Ich glaube, da irren Sie sich. Das ist heute keineswegs mehr so. Die große Mehrheit im Westen lehnt ihn ab. Ja, das gilt sogar für Rußland. 

Politisch mag das sein, aber moralisch steht er, zumindest in Deutschland, immer noch hoch im Kurs. So fragt die „Zeit“ – immerhin die größte deutsche Wochenzeitung – jüngst auf ihrer Titelseite „Kommunismus: War da nicht mal eine gute Idee?“ 

Pipes: Und zu welchem Ergebnis kommt sie?

Nun, er war es nicht. 

Pipes: Sehen Sie, das bestätigt doch, was ich sage.

Immerhin diskutiert die Zeitung die Frage – also scheint diese ja noch virulent zu sein.

Pipes: Nein, die beliebte Argumentation, erst Stalin habe die Idee pervertiert und daß sich so die moralische Entartung erkläre, hält einer historischen Überprüfung nicht stand. 

Es gibt Millionen Opfer des Nationalsozialismus und also keinen Zweifel daran, daß dieser etwas Negatives war. Der Kommunismus hat sogar noch weit mehr Tote gefordert, aber dennoch erfährt er nicht durchgängig eine gleichwertige Verurteilung. Wie ist das zu erklären? 

Pipes: Der Kommunismus hat den Vorteil, daß er an Ideale anknüpft, die aus dem Liberalismus kommen – während der Nationalsozialismus etwas völlig Neues gewesen ist. Daher stellt mancher die Frage, ob denn die Grundidee nicht eigentlich gut war. Aber wie auch immer, Tatsache ist, daß der Kommunismus von Beginn an etwas äußerst Gewaltsames und nicht im Grunde etwas Menschenfreundliches war. 

Liegt es vielleicht daran, daß die Intellektuellen von heute immer noch mit den kommunistischen Motiven sympathisieren? 

Pipes: Man kann nicht verleugnen, daß sein Motiv – die Befreiung des Menschen – ein besseres ist als das Motiv das Nationalsozialismus. Ich glaube, das macht jenen Unterschied aus, den Sie feststellen. Allerdings mehr auch nicht. In der Praxis waren beide Ideologien von Beginn an verbrecherisch. 

Mitunter wird auch heute noch gesagt, der Kommunismus in der Sowjetunion sei kein echter Kommunismus gewesen. Ergo seien die Untaten des Regimes kein Argument gegen ihn.  

Pipes: Ich kenne auch diese Argumentation. Aber finden Sie sie überzeugend? Ich nicht. Denn die einzigen Beispiele,  die wir für den Kommunismus haben, sind jene in Rußland und einigen anderen Staaten. Und allesamt waren oder sind – wenn Sie an Kuba oder Nordkorea denken – menschenverachtende Diktaturen. Einen anderen realen Kommunismus kennen wir nun mal nicht. Diese Art von Argumentation scheint mir also auf Luft gebaut.

Erinnert das nicht an die Argumentation, die wir heute häufig in bezug auf den Islam erleben, wonach die Verhältnisse in den islamischen Ländern der Welt nicht den wahren Islam darstellen – der vielmehr das sei, was sich Intellektuelle im Westen darunter vorstellen?  

Pipes: Ja, das klingt auch nicht plausibel. Ich würde ebenfalls meinen, daß natürlich das der Islam ist, was wir in der Realität der islamischen Welt vorfinden und nicht, was wir im Westen darunter verstehen wollen.  

Welche Rolle spielt der historische Kommunismus und die Art, wie wir diesen rezipieren, für die politische und kulturelle Hegemonie in den weltanschaulichen Diskursen unserer Gesellschaft heute?

Pipes: Oh, praktisch keine mehr. Denn der Kommunismus als Idee, die einmal äußerst einflußreich war, ist heute vollkommen irrelevant geworden.

Sie meinen ernstlich, er hat keine Spuren hinterlassen? Keine Ideologeme, die heute in veränderter Form wieder auftauchen? Keine Richtungsbeeinflussung unserer Denkweise heute?  

Pipes: Nun, es mag hier und da Reste geben, sicher. Aber die halte ich für so gering, daß ich nicht erkennen kann, welche Relevanz sie noch haben sollen.

Was ist mit dem Umstand, daß etliche führende Köpfe heute, zumindest in Deutschland, in ihrer Jugend Kommunisten waren? Auch wenn sie ihm längst abgeschworen haben: Ist nicht zu erkennen, daß ihr Denken zum Teil immer noch von seinen Grundsätzen beeinflußt ist? 

Pipes: Soweit ich das beurteilen kann, sehe ich das nicht. Jene, für die kommunistische Gedanken heute noch in irgendeiner Form eine Rolle spielen, sind wirklich eine winzige Minderheit. 

Wie ist das in Osteuropa? Spielt dort das geistige Erbe des Kommunismus noch eine Rolle, wie manche meinen?

Pipes: Nein, auch das sehe ich nicht.  Gerne wird natürlich darauf verwiesen, daß etwa Frau Merkel in einer kommunistischen Jugendorganisation war oder Präsident Putin als Agent dem KGB diente. Aber auch das spielt heute keine Rolle mehr. Putin ist nicht vom Kommunismus beeinflußt, sondern von der Idee einer Supermacht Rußland – die es zur Zeit der Sowjetunion nun mal eben war. Mit der Ideologie des Kommunismus aber hat das nichts zu tun. Und die Russen schätzen Putin auch nicht, weil er früher im KGB war, sondern weil sie mit ihm nach einer Zeit der Instabilität wieder einen starken Führer haben. Die Russen schätzen starke Führer. Das erklärt auch die heutige Popularität Stalins dort – nicht des KP-Chefs Stalin, sondern des Staatslenkers. Allerdings, in einer Sache stimme ich Ihnen zu: Ich hoffe, daß meine Arbeit in der Tat dazu beiträgt, daß der Kommunismus – ob des enormen Ausmaßes seiner Verbrechen – eines Tages endlich ebenso einhellig verurteilt wird, wie bereits heute der Nationalsozialismus. 





Prof. Dr. Richard Pipes, der Historiker lehrte von 1958 bis zu seiner Emeritierung 1996 an der Harvard-Universität, wo er von 1968 bis 1973 als Direktor das Zentrum für Russische Studien leitete. Zudem war er Gastdozent an den Universitäten Stanford und Leningrad. 1976 berief ihn der US-Geheimdienst CIA zum Vorsitzenden einer außenpolitischen Beratergruppe, und von 1981 bis 1982 war er Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats der USA und Direktor für osteuropäische und sowjetische Angelegenheiten unter Präsident Ronald Reagan. Außerdem gehörte der Rußlandexperte verschiedenen Denkfabriken an, darunter dem Council on Foreign Relations in New York. Pipes veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Geschichte der Sowjetunion, darunter das dreibändige Monumentalwerk „Die Russische Revolution“ mit fast zweieinhalbtausend Seiten. Geboren wurde Richard Pipes 1923 in Polen. Nach dem deutschen Angriff 1939 rettete sich die jüdische Familie in die USA. 

Foto: Mahnmal für die Opfer des Sowjet-Kommunismus in Warschau: „Eigentlich müßte er ebenso einhellig verurteilt werden wie der Nationalsozialismus“

 

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