© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/17 / 03. November 2017

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Amerika, du hast es schlechter: Nach den jüngsten Daten müssen etwa 44 Millionen Menschen wegen Drogenabhängigkeit oder psychischer Probleme medizinisch behandelt werden. Das ist jeder siebte US-Bürger. Mehr als eine Million Kinder unter sechs Jahren werden mit Antidepressiva oder vergleichbaren Mitteln behandelt. Gleichzeitig sieht sich das Land einem neuen Alkoholismus gegenüber: Jährlich sterben etwa 88.000 Personen an den Folgen von Alkoholkonsum.

˜

Was die Merkwürdigkeiten beim Auftakt der neuen Legislaturperiode des Bundestages angeht, könnte ein Blick auf das altehrwürdige Parlament von Westminster zur Entspannung beitragen. Im House of Commons gibt es grundsätzlich keine festen Plätze für die Abgeordneten; abgesehen von den Kabinettsmitgliedern. Nur wer morgens zum Gebet erscheint, darf sein Namensschild an einem Sitz befestigen und den solchermaßen reservieren. Was die Sitzordnung betrifft, hält man sich an die Tradition, die auch für die ständischen Vertretungen des Kontinents galt: die Regierung auf der besseren – also der rechten – Seite vom Speaker aus gesehen, die Opposition auf der schlechteren – also der linken – Seite.

˜

Kein Kommentar: „Krematorium Kiel – Tag der offenen Tür“.

˜

An jedem 17. Oktober findet in Paris eine Gedenkveranstaltung statt. Linke jeder Couleur, Angehörige von Menschenrechtsorganisationen, Franzosen mit Migrationshintergrund und Einwanderer, bevorzugt aus dem Maghreb, versammeln sich und erinnern feierlich an das „Massaker“, das die französische Polizei an diesem Tag im Jahr 1961 verursacht hat. Dem war eine nicht genehmigte Demonstration der „Nationalen Befreiungsfront“ (FLN – Front de Libération National) vorgegangen, die nach einem langwierigen Kolonialkrieg die Loslösung Algeriens vom französischen Mutterland erreichte. Nach üblicher Lesart – etwa in Wikipedia – sind „Hunderte“ von Demonstranten getötet worden, indem die Sicherheitskräfte sie gegen das Seine-Ufer drückten und ins Wasser stürzten, wo sie ertranken. An dieser Opferzahl wurden seit längerem Zweifel geäußert, ohne daß das den medienwirksamen Protest gegen die Untaten des alten weißen Frankreich behinderte. Aber jetzt hat der Afrikanist und Historiker Bernard Lugan die Auffassung vertreten, daß es gar keine Opfer im Zusammenhang des Protestmarschs gegeben habe. Vielleicht könne man zwei Tote mit den Vorgängen des 17. Oktober 1961 in Verbindung bringen, aber auch das sei unsicher. Es fehlten nicht nur Hinweise in den Polizeiunterlagen oder den Akten der Krankenhäuser, sondern auch zeitgenössische Quellen, die von der Bergung und späteren Bestattung einer so großen Zahl von Umgekommenen berichtet hätten. Es handele sich, so Lugan, offensichtlich um Greuelpropaganda, wahrscheinlich vom FLN und seinen Sympathisanten in den Reihen der Kommunisten und Sozialisten in Umlauf gebracht, linke Fake News.

˜

René Scheu hat in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel veröffentlicht, in dem es um den „Rassismus“ der „Antirassisten“ geht. Gemeint ist damit der seltsame Umstand, daß der Antirassismus zwar permanent mit der Behauptung operiert, im Namen der Gleichheit aufzutreten, aber bei seiner Forderung nach positiver Diskriminierung und Schutz irgendwelcher Minderheiten deren objektive Zugehörigkeit zu einer Gruppe faktisch nach rassischen Kriterien definiert. Scheu macht für diese Geistesverwirrung den Anthropologen Claude Lévi-Strauss verantwortlich, der mit seiner „strukturalistischen“ Sichtweise die Kultur zu einer Art „Gefängnis“ gemacht habe, aus der das Individuum nicht entweichen könne. Eine Vorstellung, die die linke Identitätspolitik aufgegriffen und zur Basis ihres Verlangens nach allen möglichen Sonderrechten und -vergütungen für bestimmte Gruppen gemacht habe. Das eigentlich Fatale liegt nach Meinung Scheus allerdings in der scharfen Wendung gegen den westlichen Universalismus mit seiner Betonung von Individualität und Menschenrechten. Denn die stünden nun unter dem Verdacht des „Eurozentrismus“. Man wird Scheu in bezug auf die Analyse der Lage kaum widersprechen können. Allerdings schlägt er auch nur vor, einen Irrtum durch einen anderen zu ersetzen, oder, um es schärfer zu sagen: an die Stelle linker Schludrigkeit des Denkens soll der liberale Optimismus des 18. Jahrhunderts treten, der ohne Grund ist, eine Verdrängung aller Erkenntnisse der Zwischenzeit, um die Glaubensartikel der Aufklärung wieder in Kraft zu setzen.

˜

Der britische Diplomat David Kelly meinte im Hinblick auf die „große Ära der persönlichen Freiheit“ – also die Zeit vor 1914 –, sie habe sich dadurch ausgezeichnet, „daß man in London einen Zug besteigen und ohne irgendwelche Ausweispapiere nach Paris fahren konnte. (…) nur von Rußland und der Türkei wurden damals Pässe verlangt“.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 17. November in der JF-Ausgabe 47/17.