© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/17 / 03. November 2017

Computer lesen Gemütszustände
Vom Gesicht und seiner Bedeutung: Eine Ausstellung in Dresden begibt sich auf Spurensuche
Paul Leonhard

Der Augenblick entscheidet. Weniger als 100 Millisekunden reichen dem menschlichen Gehirn aus, um eine Person als weiblich oder männlich, sympathisch, vertrauenswürdig, aggressiv oder fröhlich zu beurteilen. So schnell und so exakt sollen künftig auch Computer Gesichter erkennen und zuordnen können. Das ist der Traum des deutschen Staates, der bereits jetzt Gesichter zentral sammeln läßt und seit Juli – auf Beschluß der zu diesem Zeitpunkt regierenden schwarz-roten Koalition – dem Verfassungsschutz, den Zoll- und Steuerfahndern, dem Bundesnachrichten- und dem Militärischen Abschirmdienst den Zugriff auf alle gescannten Paßbilder ermöglicht. Daß es dafür keine Rechtsgrundlage gibt, interessiert Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht.

Wie selbstlernende Algorithmen Fotos auswerten und Muster erkennen, können Besucher der Sonderausstellung „Das Gesicht. Eine Spurensuche“ im Deutschen Hygiene-Museum Dresden ausprobieren. In einem Raum scannt ein biometrisches Gesichtserkennungssystem die Besucher. Es markiert die Augenpartie und ergänzt den Kopfrahmen um eine Reihe von Zahlen und Balken. Letztere sind mit möglichen Gemütszuständen beschriftet. So trifft der Computer Einschätzungen zu Alter und Geschlecht, gleicht die ausgelesenen Daten mit denen in seiner Datei ab.

Zeigt das Museum hier die Utopie eines Überwachungsstaates oder ist dieser nicht längst Alltag geworden? Und gibt es jenseits der Datenschutzbeauftragten nicht schon Widerstand? Die Schau verweist auf riesige Brillengestelle, die die Algorithmen verwirren sollen oder auf eine in den USA im Handel befindliche Maske. Aber Vermummungen helfen nicht immer. Wer eine Kappe ins Gesicht zieht oder sein Gesicht hinter einem Schal verbirgt, wird nach einer aktuellen Studie trotzdem zu 69 Prozent erkannt. Wer sich tarnen will, sollte seine Augenbrauen abrasieren, raten die Forscher Andrew Young uund Mike Burton in einem Beitrag im Fachblatt Current Directions in Psychological Science.

Fragestellungen nach den notwendigen, nützlichen oder schädlichen Umgangsformen mit Gesichtern, die „im Kern das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, von Normativität und Ethik betreffen, haben uns am Deutschen Hygiene-Musuem schon längere Zeit beschäftigt“, so Museumsdirektor Klaus Vogel und seine Stellvertreterin Gisela Straupe im Vorwort des Ausstellungskatalogs: „Ob wir einer realen Person von Angesicht zu Angesicht begegnen oder ob wir ein gemaltes Porträt oder eine Fotografie betrachten, immer öffnet das Gesicht eine Vielzahl von Interpretations- und Handlungsmöglichkeiten.“

Von der Renaissance bis ins 21. Jahrhundert

Den entscheidenden Impuls, dem Thema „Gesicht“ eine Ausstellung zu widmen, gab die Wissenschaftlerin Sigrid Weigel mit ihrem Forschungsprojekt „Das Gesicht als Artefakt“. Weigel hat die bildgewaltige und tiefgründige Dresdner Ausstellung auch wissenschaftlich begleitet.

Den Besucher erwarten etwa 150 kulturhistorische und wissenschaftliche Objekte, Medien und Dokumente der Alltagskultur sowie Kunstwerke. Kuratorin Kathrin Meyer hat die Ausstellung in vier Bereiche gegliedert, die einen Bogen spannen, der von der Renaissance bis ins 21. Jahrhundert reicht.

Im Teil „Das Gesicht als Gestalt“ wird von der unendlichen Vielfalt der Gesichter erzählt, die auf naturgegebenen Unterschieden und Veränderungen durch das Altern sowie dem Kampf der Kosmetikindustrie dagegen beruht: Täglich bearbeiten wir unser Gesicht vor dem Spiegel mit Make-up, Pinzette oder Rasierapparat, unterwerfen es sogar der plastischen Chirurgie. Es wird an den Berliner Chirurgen Jacques Joseph erinnert, der ab 1904 intranasale Nasenformkorrekturen durchführte und dessen Spezialwissen besonders gefragt war, als immer mehr gesichtsverletzte Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrten. Chirurgen führten an den „Kriegszermalmten“ spektakuläre und innovative Eingriffe durch.

Dem Mienenspiel widmet sich der Bereich „Mimik und Ausdruck“. Menschen sind fähig, Gesichtsausdrücke aus dem Gefühl heraus und unwillkürlich zu lesen. Aber nicht immer wird das Gegenüber verstanden. Asiaten achten bei der Deutung von Mimik auf die Augenpartien, Europäer eher auf den Mund. Daraus ergeben sich Mißverständnisse, und manche Regung bleibt rätselhaft.

Ein Algorithmus erkennt Wolkengesichter

Die dritte Abteilung beleuchtet unter dem Titel „Punkt, Punkt, Komma, Strich“ das Erkennen von Gesichtszügen in anderem als dem menschlichen Gesicht sowie analoge und digitale Techniken der Gesichtserkennung. Zu sehen sind 36 Fotografien, die jeweils ein „Wolkengesicht“ zeigen. Diese wurden jedoch nicht von einem Menschen als solche erkannt, sondern von einem Algorithmus, der die Kamera auslöste. Unter der Überschrift das „Gesicht als Bildnis“ sind in der vierten Abteilung Porträts von Menschen aus unterschiedlichen Jahrhunderten zu sehen. Dabei erhält jedes einzelne Bild ein eigenes Display in Form von 14 Säulen. Hier geht es um Fragen nach Individualität und Gemeinschaft, der Reflexion sowie den gegenwärtigen Spuren der Vergangenheit (Totenmasken).

Ein perfektes künstliches Gesicht hat die Künstlerin Kate Cooper digital geschaffen. Daß es sich um keinen realen Menschen, sondern eine Kunstfigur handelt, dürfte dem Betrachter wohl eben durch die Perfektion sofort klar sein. Die Ausstellungsmacher haben diesen 3D-Avatar mit weiblichen Zügen für ihr Werkeplakat ausgewählt, in der Exposition selbst ist es am Übergang vom ersten zum zweiten Ausstellungskapitel als großformatige Projektion zu sehen.

Die Ausstellung „Das Gesicht. Eine Spurensuche“ ist bis zum bis 25. Februar im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, Lingnerplatz 1, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen.

Der broschierte Ausstellungskatalog (Wallstein Verlag) mit 204 Seiten  und 76 farbigen Abbildungen kostet 24,90 Euro.

 www.dhmd.de