© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/17 / 10. November 2017

„Man spürt die Eitelkeit“
Der Medienwissenschaftler Michael Haller kommt in einer Studie zum Verhalten der Medien in der Asylkrise zu beklemmenden Resultaten
Moritz Schwarz

Herr Professor Haller, Sie haben in einer Studie zusammen mit der Uni Leipzig und der Hamburg Media School im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung die Medienberichterstattung zur Flüchtlingskrise 2015 und 2016 analysiert. Wie lautet Ihr Fazit?

Michael Haller: Zunächst: Wir haben ausschließlich tagesaktuelle Informationsmedien untersucht. Deren Aufgabe ist es, uns über das Geschehen in der Welt ins Bild zu setzen. Wir reden hier also nur über diesen Informationsjournalismus, nicht über Wochenzeitungen, Magazine, Talkshows etc. In diesen Informationsmedien, das zeigen unsere Inhaltsanalysen, kamen 2015 überwiegend Akteure der Regierungsparteien in Berlin zu Wort. Und die sehr ausführlich.

Haben sich also die tagesaktuellen Leitmedien mit der etablierten Politik „verbündet“ und Andersdenkende mißachtet? 

Haller: Die Journalisten waren nicht verbündet, eher fixiert. Man sieht dies daran, daß andere politische Positionen vergleichsweise selten vorkommen, und wenn doch, dann meist nur am Rande. Noch seltener wurde über die direkt Beteiligten berichtet, über zuständige Behördenvertreter, Helfer und Initianten, Flüchtlinge und Asylbewerber. Völlig unbeachtet blieben Fachleute, etwa Migrationsexperten, obwohl die viel zur Aufklärung hätten beitragen können.

Nicht selten nutzten die Korrespondenten 2015, so schreiben Sie, „eine Diktion, die persönliche Nähe, auch Vertrautheit zur politischen Elite suggeriert“. Also haben die Medien die Politik nicht kontrolliert, wie es Pflicht der „Vierten Gewalt“ ist?

Haller: Wir haben die Flüchtlingsberichterstattung der vier meinungsführenden Tageszeitungen – Süddeutsche, FAZ, Welt und Bild – mikroskopisch genau analysiert. Jede der vier hat zur Flüchtlingsfrage eine spezielle Haltung eingenommen. Manchmal gab es auch unter Kommentatoren derselben Zeitung unterschiedliche Positionen. So gesehen ist die Meinungsvielfalt zweifellos nachweisbar. Fatal aber ist, daß sich die Debatte fast ausschließlich auf abstrakter Ebene und dort unter den Parteien und Politikern abspielte. Frei nach dem Muster: Wenn Politiker A über eine Äußerung von Politiker B dem Journalisten der Zeitung X seine Meinung sagt, dann steckt der Politiker C dem Journalisten der Zeitung Y  die „Sensation“, daß er die Äußerung des Politikers A für ungeheuerlich halte, aber die Ansichten von Politiker B abwegig finde und so weiter. Dieses Polit-Theater hat die Berichte und Kommentarspalten geprägt, hatte aber mit Sorgen und Nöten sehr vieler Menschen rein gar nichts zu tun.

Haben diese Medien angesichts des Anspruchs, vierte Gewalt zu sein, versagt?  

Haller: Wir sollten nicht über „Versagen“ sprechen, denn das Wort setzt voraus, daß man das Leistungsprofil des Journalismus unstrittig bestimmen könnte. Das kann man aber nicht. Journalismus ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Es gibt viele Redaktionen, die sich aus freien Stücken in den Dienst einer Partei, einer Überzeug oder auch eines kommerziellen Interesses stellen. Ihre Zeitung etwa hat sich ein Leitbild gegeben, in dem die Begriffe Nation, Konservatismus und Christentum eine herausragende Bedeutung haben. Sie vertreten damit eine ideologisch definierte Linie, und das ist im Konzert der vielen Medienstimmen auch in Ordnung. Anders ist es mit den tagesaktuellen Informationsmedien. Die sind keine Debattenmagazine, sondern haben aus Sicht ihrer Nutzer die Funktion, das Geschehen zu beobachten und, soweit es relevant ist, darüber zu berichten, es einzuordnen und zu gewichten. Ganz allgemein soll der Journalismus zudem noch das Wächteramt wahrnehmen. Tatsächlich wird ja im vorrechtlichen Raum oftmals gegen Treu und Glauben, gegen Fairneßregeln und auch gegen Verfahrensregeln verstoßen. Und hier kommt der investigative Journalismus ins Spiel. Er soll „krumme Dinger“, meist Machtmißbrauch, und Mißstände von öffentlichem Belang aufdecken, ganz gleich, wer die Übeltäter sind. Es versteht sich, daß sich diese Spürhund-Arbeit vor allem gegen Machtinhaber richtet, meist in der Finanzwelt, Wirtschaft oder Politik.

Aber ... 

Haller: Ja, ich komme zurück zu Ihrer Frage: Unsere Studie zeigt auf, daß zum Themenkomplex Flüchtlingskrise praktisch nicht recherchiert wurde, also keine Mißstände vermutet wurden. Inzwischen wissen wir, daß es seit Spätsommer 2015 auf verschiedenen Vollzugsebenen erhebliche Mißstände gab und noch gibt. Erst im Anschluß an die Silvesternacht 2015/16 kamen Redaktionen auf die Idee, im Zusammenhang mit Flüchtlingsunterkünften und deren Bewirtschaftung kritisch nachzufragen. Investigative Recherchen etwa darüber, wer hier wie und mit welchen Behördenhelfern das große Geschäft gemacht hat, sind mir nicht untergekommen. Vielleicht habe ich sie auch übersehen.

Für Ihre Studie wurden 35.000 Medienbeiträge gesichtet und mehr als 20.000 analysiert. Sie bilanzieren, daß der „journalistische Qualitätsgrundsatz, aus neutraler Sicht sachlich zu berichten, in rund der Hälfte der Berichte nicht durchgehalten wird“. Widerspricht das nicht dem Selbstbild, das unsere Medien von sich haben?  

Haller: Ich möchte es anders beschreiben: Mir scheint, die News-Journalisten haben von sich selbst ein Bild, das mit dem, was sie publizieren, nicht zusammenpaßt. Als 2015 viele hunderttausend Migranten und Flüchtlinge nach Deutschland kamen, wollten sehr viele Journalisten selbst zu den Willkommenden gehören und mit dazu beitragen, daß den Notleidenden geholfen wird. Man könnte dies so deuten, daß vor lauter Engagement ihre berufliche Aufgabe, aus neutraler Sicht über die Vorgänge zu informieren, vergessen wurde. So schön die Identifikation mit der Rolle des helfenden Menschenfreundes aus moralischem Blickwinkel auch sein mag, so wenig paßt sie zur Funktion der Informationsmedien in einer demokratischen Gesellschaft, die sich fortlaufend über sich selbst Klarheit verschaffen muß.  

Mit welchem Resultat hatten Sie gerechnet? 

Haller: Nun, wir sind ergebnisoffen an das Thema herangegangen, haben uns nicht auf bestimmte Resultate eingestellt. Mir ging es allein um Aufklärung. Und so wurde auch geforscht. Die Codierer hatten keinerlei Vorgaben. Und deren Codebuch entstammt einem Forschungsprogramm, das sich mit der Qualität des Journalismus befaßt, also nichts mit der Flüchtlingsberichterstattung zu tun hatte. 

Noch einmal, welches Fazit ziehen Sie als Experte denn nun aus Ihrem Befund? 

Haller: Daß der laufende Medienprozeß weiter forschend begleitet und analysiert werden sollte. Die Befunde zur Flüchtlingsthematik verweisen auf tiefgehende Dysfunktionen in unserem Mediensystem. Unsere Untersuchung entspricht insofern eher einer Fallstudie.

Ein Qualitätskriterium im Informationsjournalismus ist die Trennung von Bericht und Kommentar. Ihre Studie stellt fest, daß rund die Hälfte der gesichteten Beiträge gegen diese einfache Regel verstoßen hat. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Haller: Diese Sache ist ziemlich verzwickt, denn formal wird die Trennung zwischen Kommentar und Bericht eingehalten – die Kommentare werden stets als solche ausgezeichnet und erkennbar plaziert. Die Meinungsmache, wie sie in der sogenannten Gesinnungspresse der Weimarer Republik vorherrschte, kennen wir zum Glück nicht mehr. Heute ist es eher so, daß viele Journalisten, während sie berichten, ihre Wertungen einfließen lassen. Es macht einen Unterschied, ob ich schreibe: Der Politiker „sagte“ oder „stotterte“ oder gar „geiferte“ – oder „brüllte“ oder „sinnierte“. Solche Finessen haben wir untersucht: Rund die Hälfte der Berichte über Politiker haben solche Wertungen enthalten.

Ist das Unvermögen oder Manipulation?

Haller: Von all dem etwas. Ich vermute, daß viele Journalisten der irrigen Meinung sind, solche Einfärbungen und Wertungen machten ihren Bericht und damit sie selbst interessanter. Manche wollen auch ihre Sichtweise, ihre politische Auffassung zum Ausdruck bringen. Das geschieht quasi zwischen den Zeilen und ist deshalb bedenklich, weil es bei manchen Lesern das diffuse Gefühl  weckt, manipuliert zu werden.

Haben also etliche Medien ein Arroganz-Problem gegenüber uns Nutzern? 

Haller: Ich habe schon den Eindruck, daß die sogenannten Leitmedien – also die führenden Tageszeitungen und die Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte die Bodenhaftung verloren haben. Man spürt Eitel- und viel Selbstgefälligkeit. Vielleicht spielt hier auch die altbekannte Neigung vieler Deutscher eine Rolle, Autoritäten gefällig sein zu wollen. Mitunter ist ja der Butler eitler als sein distinguierter Herr. Diesen Hang zur Subordination finden Sie vielerorts, auch in den Parteien – je konservativer, um so ausgeprägter.

„Bis Herbst 2015“, so Ihre Studie, „greift kaum ein Kommentar die Sorgen, Ängste und Widerstände eines wachsenden Teils der Bevölkerung auf. Wenn doch, dann in belehrendem oder (gegenüber ostdeutschen Regionen) verächtlichem Ton.“ Haben also doch viele Bürger recht, die damals erzürnt den Medien schwere Vorwürfe gemacht haben und von diesen dafür als gegenüber der demokratischen Institution der Presse respektlose Wutbürger dargestellt wurden?

Haller: Ihr Zitat betrifft nicht „die“ Medien, sondern die von uns analysierten Kommentare zur Flüchtlingspolitik im Sommerhalbjahr 2015 der vier genannten Tageszeitungen. Nur in diesem engen Korridor ist es so, daß Sorgen, Ängste und Widerstände eines wachsenden Teils der Bevölkerung nicht thematisiert, also übersehen oder übergangen wurden.

Welche Konsequenz müßte man ziehen?

Haller: Der Informationsjournalismus müßte seine Aufgaben in der digitalen Informationsgesellschaft neu fassen. Wir sehen doch die Tendenz zur Abschottung: Linke und Rechte, Europäer und Nationalisten grenzen sich ab. Jeder pflegt nur den Austausch mit Gleichgesinnten, jeder lebt in seiner Echokammer – auch die Macher der Leitmedien. Das ist ein fataler Trend, weil er den öffentlichen Diskurs abblockt und die Frontenbildung stärkt. Der Journalismus sollte gegen diese Lagerbildung angehen. Er könnte dies, wenn er über die verschiedenen Positionen zutreffend berichtet. Wenn er auch unliebsame Ansichten aufgreift und öffentlich diskutiert. Das Wichtigste aber ist, daß er aus dem Zirkel der Machteliten aussteigt und „den Kopf frei bekommt“ für die wirklich wichtigen Themen der Menschen. Er sollte einen radikalen Perspektivenwechsel vornehmen und aus der Sicht jener recherchieren, für die er da ist. Das sind die Bürgerinnen und Bürger, die Betroffenen und oft auch die Ohnmächtigen. 

Werden diese Konsequenzen auch gezogen? 

Haller: Es gibt ermutigende Ansätze. In nicht wenigen Regionalzeitungen bemühen sich die Lokaljournalisten jetzt, das Migranten- und Flüchtlingsthema deutlich vielschichtiger anzugehen. Es gibt auch mehr Recherchen in bezug auf Behördenversagen und Reportagen vom Ort des Geschehens. Und auch Andersdenkende, auch Kritiker der Merkelschen Flüchtlingspolitik werden ernster genommen. Dieser Trend wurde durch unsere Studie verstärkt, die in vielen Zeitungsredaktionen ernst genommen wird. Ob dies nachhaltige Prozesse sind, wird man aber erst in ein paar Jahren sehen. 

Sie schreiben auch: „Kaum ein Kommentar während der Hochphase (August und September) versuchte eine Differenzierung zwischen Rechtsradikalen, politisch Verunsicherten und besorgten, sich ausgegrenzt fühlenden Bürgern. So dienten sie grosso modo nicht dem Ziel, verschiedene Grundhaltungen zu erörtern, sondern dem, der eigenen Überzeugung oder der regierungspolitischen Sicht Nachdruck zu verleihen.“ 

Haller: Nun, ich bin kein Moralist und kein Gutmensch, sondern Medienwissenschaftler. Unsere Studie sollten Sie wie die Diagnose eines Arztes lesen. Auch er wird dem rauchenden oder Bier trinkenden Patienten keine Bewertung seines Verhaltens geben, sondern Dysfunktionen konstatieren. Die Folgerungen muß schon der Patient selbst ziehen. Wir sprachen ja schon darüber, daß sich hier manches bessert. Um im Bild zu bleiben: Der kiffende Patient kifft jetzt weniger. Ob der jetzt auch mit Fitneß-Training beginnt, wird sich zeigen. 

Welche Konsequenz sollte der Bürger ziehen? 

Haller: Das Publikum muß verstehen lernen, wie Journalismus in dieser Gesellschaft funktioniert. Was in den Medien steht, ist nicht verordnet, sondern folgt Routinen und eingeübten Prozeduren nach Maßgabe ökonomischer, technischer und beruflicher Regelwerke. Wer Medien sinnvoll nutzen will, sollte wissen, wie er Falschnachrichten erkennen und Gerüchtemacherei durchschauen kann. Die unendlichen Informationsangebote etwa auf Facebook verleiten ja dazu, nur noch aufzunehmen, was mit der eigenen Meinung übereinstimmt. Aus Ansichten werden dann beinharte Überzeugungen, die zu fest zementierten Vorurteilen erstarren. Für die Demokratie gefährlich wird es, wenn Andersdenkende haßerfüllt beschimpft werden, statt sich deren Argumente anzuhören und ein Gespräch zu beginnen. 






Prof. Dr. Michael Haller, ist Autor der aktuellen Studie „Die ‘Flüchtlingskrise’ in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information“. Der Emeritus leitete bis 2016 die Abteilung Forschung der Hamburg Media School. Außerdem ist er Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommuniukationsforschung in Leipzig, wo er an der Universität bis 2010 auch den Lehrstuhl für Journalistik am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft innehatte. Seine Laufbahn begann der Medienwissenschaftler als Journalist, leitender Redakteur und Reporter bei der Basler Zeitung, beim Spiegel und der Zeit. Geboren wurde Michael Haller 1945 in Konstanz. 

Foto: Fernsehkamera und Flüchtlingskinder 2016 im griechischen Idomeni: „Zunächst wurde kaum recherchiert“

 

 

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