© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/17 / 10. November 2017

Zugriff in letzter Minute
Terrorismus: Nach Festnahme eines Syrers wird über die Gefahrenabwehr debattiert
Paul Leonhard

Drehende Pyramiden, Bratäpfel, Pflaumentoffel, Christstollen, das Klingeling der Glöckchen und Weihnachtsmelodien, Lichterglanz – nein, so richtige Stimmung wird beim Gang über die Weihnachtsmärkte in den deutschen Städte auch in diesem Jahr nicht aufkommen. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an die Bluttat des Tunesiers Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 mit einem Lastwagen in Berlin in einen Weihnachtsmarkt gerast war und zwölf Menschen getötet hatte, zu deutlich die Drohungen anderer Islamisten und die Warnungen der deutschen Sicherheitsorgane. Auch der am 31. Oktober durch ein Großaufgebot der Polizei in seiner Wohnung in einem Schweriner Plattenbau festgenommene Bürgerkriegsflüchtling Yamen A. wollte möglichst viele Deutsche töten. Nach den bisherigen Erkenntnissen der Ermittler plante der Syrer Anschläge auf Weihnachtsmärkte in Mecklenburg-Vorpommern, so in Schwerin und Rostock, oder auf die die Landeshauptstadt Stralsund mit der Insel Rügen verbindende Brücke.

Ein „schwerer Terroranschlag“ sei verhindert worden, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) nach der Verhaftung des Syrers. Diese sei zum richtigen Zeitpunkt erfolgt, lobte der Minister: „Spät genug, um Beweise zu sichern und gleichzeitig früh genug, um die Gefahr zuverlässig zu bannen.“ Ob das die Menschen auch so sehen, die mit Yamen A. in dem Mehrfamilienhaus im Schweriner Vorort Neu-Zippendorf lebten, in dem er hochexplosiven Sprengstoff hortete?

Von einer „regelrechten Bombenwerkstatt“ schreibt die Süddeutsche Zeitung. Der Terrorist sei „seinem mutmaßlichen Ziel, eine Bombe zu bauen, näher gewesen, als die Ermittler, die ihn eine gute Woche lang observiert hatten, dachten“. Besonders erschreckend war für die Sprengstoffexperten, daß der Syrer bereits TATP hergestellt hatte, ein als äußerst instabil geltendes Sprengpulver, das schon durch einen Stoß oder Reibung explodieren kann. Und auch daß der Flüchtling nur kleine Mengen TATP hergestellt hatte, stimmt die Beamten nachdenklich: War der Stoff lediglich als Treibladung im Zünder für eine viel gewaltigere Sprengung gedacht? Auch wurden Bauteile für eine Fernzündung gefunden.

„Sicherheit und Freiheit     in Einklang bringen“

Noch ist vieles unklar. Der entscheidende Hinweis auf den 19jährigen, der sich seit Herbst 2015 in Deutschland als Flüchtling aufhält, im Frühjahr 2016 einen Asylantrag gestellt hat, seit April 2016 eine befristete Aufenthaltsgenehmigung besitzt und subsidären Schutz genießt, kam von einem ausländischen Geheimdienst. Angenommen wird, daß die Erkenntnisse von der amerikanischen NSA stammen, die sich in der nachrichtendienstlichen Terrorabwehr nicht an die deutschen Gesetze halten muß.

Die monatelangen Ermittlungen hätten gezeigt, daß die Polizei in der Lage ist, auch solche gravierenden Bedrohungen abzuwenden, sagt Oliver Malchow, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), verweist aber gleichzeitig auf die Achillesferse der deutschen Sicherheitsstruktur: „Die Polizei muß noch immer Prioritäten setzen und andere Kriminalitätsfelder aus Personalgründen vernachlässigen.“ Im konkreten Fall hatte ein Mobiles Einsatzkommando Yamen A. seit dem 21. Oktober rund um die Uhr beobachtet.

Gleichzeitig fordert Malchow einen intensiveren Austausch zwischen internationalen Nachrichtendiensten: „Nur im engen Zusammenspiel der Geheimdienste können wir Terrorpläne frühzeitig aufdecken.“ Der Schengen-Raum müsse „auch den grenzüberschreitenden Austausch sicherheitsrelevanter Informationen beinhalten“.

Vor Aktionismus warnt die Polizeigewerkschaft. „Das Thema Innere Sicherheit kommt schnell hoch, ist aber auch schnell wieder weg“, sagt Malchow. Die künftigen Regierungspartner müssen unverzüglich die notwendigen Voraussetzungen für „eine noch effektivere Polizeiarbeit“ schaffen. Konkret geht es dem Gewerkschaftschef neben einer personellen Aufstockung der Polizei um Strukturänderungen: Das Bundeskriminalamt soll als zentrale Stelle gestärkt werden und „eine koordinierende Funktion für die Überwachung sogenannter Terror-Gefährder“ übernehmen. Auch müsse es ein bundesweit geltendes Polizeigesetz geben und die Nutzung von Mautdaten bei der Aufklärung schwerster Straftaten möglich sein. Es sei notwendig, praxistaugliche Ermittlungsmöglichkeiten zu schaffen, „ohne ideologische Barrieren beim Datenschutz aufzubauen“.

Parteipolitische Grabenkämpfe wie um die Vorratsdatenspeicherung dürfe es angesichts einer verunsicherten Bevölkerung nicht mehr geben, warnt Malchow: „Sicherheit und bürgerliche Freiheitsrechte müssen in Einklang gebracht werden.“ Olaf Knöpken, Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DpolG) in Mecklenburg-Vorpommern, macht auf einen Strategiewechsel in der islamistischen Terrorszene aufmerksam. „Die Terroristen konzentrieren sich weniger auf Großstädte und dafür mehr auf die Provinz“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Dort rücken weiche Ziele zunehmend in den Fokus.“ Als erste Konsequenz müssen selbst in Kleinstädten die Herbst- und demnächst die Weihnachtsmärkte mit Betonsperren abgesichert werden.