© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/17 / 10. November 2017

Ein Schock für die polnische Gesellschaft
Vergessenes Kapitel: Der polnische Historiker Ryszard Kaczmarek legt die Geschichte von 500.000 Polen in der Wehrmacht bloß
Paul Leonhard

Nachdem Wehrmacht und Rote Armee 1939 Polen besetzt hatten, ergab sich für die dort lebende Bevölkerung, zumindest für jenen Teil, der nicht aus politischen oder rassistischen Gründen sofort verfolgt wurde, ein schwerwiegendes Problem: Wie sollte sie mit ihren jeweiligen Besatzern umgehen? Kollaborieren, in den Widerstand gehen oder abwarten und das Beste daraus machen? Den daraus entstehenden Identitäts- und Loyalitätskonflikten geht der polnische Historiker Ryszard Kaczmarek in dem als Band 65 der Schriftenreihe des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa erschienenen Werk „Polen in der Wehrmacht“ anhand von umfangreichem Quellenmarterial nach.

Die Nationalsozialisten teilten Polen in zwei Teile auf: in das von Krakau aus verwaltete Generalgouvernement sowie jene Gebiete, die an das Reich angegliedert wurden wie das Wartheland, das Reichsgau Danzig-Westpreußen und Oberschlesien. In letzteren wurden nach polnischen Schätzungen etwa drei Millionen Polen über die ab März 1941 eingeführte Deutsche Volksliste (DVL) „zwangsgermanisiert“.

In der Wehrmacht ohne „Volkslisten“-Bezug gedient

Diese Liste unterschied zwischen vier Gruppen. Nur wer es schaffte, wenigstens in die dritte Gruppe eingestuft zu werden, erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft, konnte seinen Besitz behalten oder bekam ihn bei bereits erfolgter Enteignung zurück, hatte Anspruch auf deutsche Sozialleistungen, erhielt bessere Lebensmittelkarten. Der Nachteil war, daß die deutsche Staatsbürgerschaft für die Wehrpflichtigen eine sofortige Einberufung bedeutete. Angehörige der Gruppe 4 bekamen dagegen nur ausnahmsweise eine deutsche Staatsangehörigkeit auf Widerruf. Offenbar wurden aber auch Polen in die Wehrmacht eingezogen, die sich offen zur polnischen Nation bekannt oder keinen Antrag auf Aufnahme in die Volksliste gestellt hatten.

Von 10,13 Millionen Menschen, die in den von Deutschland annektierten Gebieten lebten, gehörten rund 600.000 zur deutschen Minderheit. Daß sich im Herbst 1943 aber etwa 3,12 Millionen Menschen in die DVL eingetragen hatten, davon fast 1,96 Millionen in die Gruppe 3, hängt mit der Rassenpolitik der NSDAP zusammen, deren Ziel es war, die über Jahrhunderte hinweg „slawisierten“ Deutschen „zurückzugewinnen“.

In den Rehabilitaionsverfahren gingen die polnischen Behörden 1945/46 davon aus, daß die Eintragungen in die DVL in Oberschlesien, Westpreußen und dem Regierungsbezirk Zichenau zwangsweise erfolgt waren und sprachen den meisten Betroffenen die polnische Staatsangehörigkeit erneut zu. In den Jahrzehnten danach galten Polen, die einst deutsche Uniform getragen hatten, zunehmend als Volksverräter. 

Zuletzt spielte dieses Thema während der Präsidentschaftswahlen 2005 eine große Rolle, als der Journalist Jacek Kurski versuchte, Donald Tusk, den späteren Ministerpräsidenten und Vorsitzenden des Europäischen Rates, mit der „Enthüllung“ zu verunglimpfen, daß dessen kaschubischer Großvater in der Wehrmacht gedient hatte. Ernst nach der Wahl arbeiteten Historiker heraus, daß Józef Tusk als Bürger Danzigs gar keine polnische Staatsangehörigkeit besessen und die deutsche 1939 automatisch per Erlaß erhalten hatte. Tusk hatte nach Jahren der Zwangsarbeit bis 1943 in den Konzentrationslagern Stutthof und Neuengamme gesessen und war nach seiner Entlassung im August 1944 zur Wehrmacht einberufen worden. Später kämpfte er in den polnischen Streitkräften unter westalliiertem Kommando. Ob er desertiert oder in Gefangenschaft geraten war, ist bis heute unklar.

Daß die polnischen Wehrmachtssoldaten „jede Gelegenheit wahrnahmen, zu den Alliierten überzulaufen“, sei in Zehntausenden Fällen dokumentiert, behauptet Kaczmarek, belegen kann er es nicht. Auch fand dieses „Überlaufen“ offenbar häufig zu einem Zeitpunkt statt, als sich diese Soldaten in Gefangenschaft befanden und gezielt angeworben wurden, um unter alliiertem Kommando gegen Deutschland zu kämpfen.

Der Streit um den „Großvater in der Wehrmacht“ beschäftigt seit 2005 viele polnische Familien. Auch Kaczmarek begab sich mit seinem 2010 in polnischer Sprache erschienenen Buch „Polen in der Wehrmacht“ auf vermintes Territorium, wies er doch nach, daß entweder Kollaboration massenhaft vorgekommen oder bei der Aufnahme in die Deutsche Volksliste Zwang ausgeübt worden war. 

Ein Pfeiler des historischen Gedächtnisses ist eingestürzt

Die Tatsache, daß etwa eine halbe Million Polen in der Wehrmacht gekämpft hatte, brachte einen „Pfeiler des polnischen historischen Gedächtnisses zum Einsturz, nämlich die Überzeugung, die Polen hätten während des Krieges geschlossen und massenhaft Widerstand geleistet“, schreibt Kaczmarek. Es sei ein Schock für die polnische Gesellschaft gewesen, sich 65 Jahre nach Kriegsende eingestehen zu müssen, daß ethnische Polen „massenhaft in der Wehrmacht gedient hatten, zumal in Polen kein Zweifel darüber bestanden hatte, daß die Wehrmacht mitverantwortlich für Kriegsverbrechen war“.

Für die Einschätzung der Kollaborationsbereitschaft unter deutscher Besatzungsherrschaft sei wichtig, daß vormalige polnische Staatsangehörige in großer Zahl in der deutschen Armee Dienst taten, während sich vergleichsweise wenige zur Waffen-SS meldeten, schreibt Kaczmarek. Es könne heute als sicher gelten, daß in den eingegliederten Gebieten ein Gros der männlichen Bevölkerung tatsächlich in die Wehrmacht eingezogen wurde und sich nicht freiwillig gemeldet habe.

Ryszard Kaczmarek: Polen in der Wehrmacht. Verlag De Gruyter Oldenbourg, München 2017, gebunden, 244 Seiten, Abbildungen, 39,95 Euro