© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/17 / 17. November 2017

Die Würde des * ist unantastbar
Karlsruhe: Mit dem Urteil zum „dritten Geschlecht“ sind neue Streitfälle absehbar
Günter Bertram

Seinem Ruf, das Banner des Fortschritts voranzutragen, ist der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts treu geblieben. Der lange Text des Beschlusses zum „dritten Geschlecht“ vom Mittwoch vergangener Woche kann auf eine kurze Formel gebracht werden: Das Gendersternchen hat nun Verfassungsrang.

Die „beschwerdeführende Person“ – in den Medien als „Vanja“ präsentiert – war nach ihrer Geburt vom Standesbeamten als „weiblich“ ins Register eingetragen worden, hatte sich aber später nicht als Frau, allerdings auch nicht als Mann, sondern als ganz anders empfunden. Tatsächlich war Vanja „intersexuell“, wies also sowohl weibliche als auch männliche Merkmale hinsichtlich der Chromosomen und Hormonproduktion auf. Die Wissenschaft spricht hier von „Disorders of sex development“; man schätzt, daß es in Deutschland etwa 100.000 Betroffene gibt. 

Vanja – mittlerweile erwachsen – beantragte unter Vorlage einer Chromosomenanalyse beim Standesamt, den Eintrag „weiblich“ zu löschen und durch den Begriff „inter/divers“ zu ersetzen. Der Beamte verwies Vanja darauf, daß der Eintrag „weiblich“ nach der Neufassung des Personenstandsgesetzes von 2013 (Paragraph 21 und folgende) ersatzlos gelöscht werden könne; niemand sei genötigt, sich einem unerwünschten Geschlecht amtlich zuordnen zu lassen. Das genügte Vanja aber nicht: Er/sie besitze durchaus ein Geschlecht – zwar keines der beiden gängigen, „binären“, sondern ein anderes, besonderes, abweichendes. Dies müsse das Register positiv ausweisen und dürfe über seine/ihre Geschlechtlichkeit nicht einfach schweigen, so als habe diese Person keines. 

Das Amt lehnte den Antrag ab, Vanja führte dagegen vergeblich Beschwerde bis zum Bundesgerichtshof, der die einschlägige Bestimmung des Personenstandsgesetzes für verfassungsmäßig und die behördliche Entscheidung für rechtens erklärte. Vanja aber griff die fraglichen Gesetzespassagen mit der Verfassungsbeschwerde an und erwirkte so den Beschluß, der das Gesetz insoweit für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber aufgibt, im Lichte der Senatserkenntnisse das Gesetz neu zu fassen.

Eine Option: Streichung der Kategorie „Geschlecht“

Worin bestand das Karlsruher Licht?  Für jede Person sei ihre geschlechtliche Identität von überragender, zentraler und konstitutiver Bedeutung; ihre Mißachtung verletze die Menschenwürde und damit auch weitere Grundrechte wie den Gleichheitssatz und das Diskriminierungsverbot. Für Frauen und Männer stehe das ausdrücklich im Grundgesetz und sei  längst unumstritten. Auch der Verfassungsgeber habe 1949 und später nur an diese beiden „binären“ Geschlechter gedacht. Die Existenz von Intersexuellen sei erst später ins öffentliche Bewußtsein getreten; diesem Fortschritt sei nun aber Rechnung zu tragen, auch im Registerrecht. 

Es genüge nicht, daß Menschen vor einer falschen Geschlechtszuweisung geschützt seien. Sie würden vielmehr auch dann angegriffen, verletzt und ihrer Würde beraubt, wenn sie ignoriert, im Register also nicht positiv erwähnt, benannt und erkennbar abgebildet würden. Die Richter sagen nicht, wie das zu geschehen habe; das beantragte „divers“ sei nur ein Weg. Sie geben auch zu erwägen, daß der Gesetzgeber der ganzen Kalamität den Boden entziehen könne, indem er die Registerkategorie Geschlecht ersatzlos streicht.

Das Gericht greift dabei gewiß eindrucksvoll zu hohen und hehren Worten über Menschenwürde, Grundrechte, Personhaftigkeit und Wesenskern. Es bleibt aber trotzdem unerfindlich, wieso hier in der bloßen Nichterwähnung ein verletzender Angriff liegen soll. Da wird der nüchternen Registerbürokratie wohl doch gar zu schweres Gepäck aufgehalst. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, der Senat habe nur auf einen Anlaß gewartet, um endlich ein Zeichen zu setzen– daß sich ihm jedoch kein besserer hatte bieten wollen als dieser ziemlich graue Registerfall. 

Der Beschluß fiel nicht vom Himmel. Das Terrain war ideologisch vorbereitet: Der Senat hatte sich von sechzehn Vereinigungen beraten lassen, unter anderem vom Ethikrat, von Menschenrechtlern, Vereinen Intersexueller, von Trans- und Queerverbänden sowie solchen für Lesben, Schwule, Bisexuelle. Bis auf den Bund der Standesbeamten und – halbherzig – auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken votierten alle Befragten teils überschwenglich  für Vanjas Forderung. 

Dem Senat wird es keine Mühe bereitet haben, solche Stimmen aufzurufen, war eine seiner Richterinnen, Susanne Baer, vor ihrer Berufung nach Karlsruhe doch Leiterin des Berliner Gender-Kompetenz-Zentrums. Dessen Netze waren dem Senat also zur Hand. 

Für das Gericht könnte die Geschichte eine unendliche werden, denn das „dritte Geschlecht“, von dem jetzt die Schlagzeilen vorschnell künden, umfaßt laut der Genderforschung eine fast unbegrenzte Fülle von Geschlechtern. Das kann zu Interessenkonflikten führen, die letztlich wieder in Karlsruhe landen.