© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/17 / 17. November 2017

Du bist nichts, der Clan ist alles
Organisierte Kriminalität: Die Netzwerke arabischer Großfamilien in der Hauptstadt weiten sich aus
Björn Harms

Die Fenster der Autovermietung „Upper Cars“ in Berlin-Charlottenburg sind verdunkelt. Auf mehrfaches Klingeln – keine Reaktion. Auch per Telefon ist niemand zu erreichen. Auf der Internetseite heißt es lapidar: „vorübergehend geschlossen“. Zwei Razzien der Berliner Polizei innerhalb eines Jahres scheinen die kurze Firmengeschichte des Autoverleihs abrupt beendet zu haben. Nach einer ersten Durchsuchung der Geschäftsräume im Mai erfolgte im Oktober sogleich die nächste. Im Fokus der stadtweiten Razzia standen Mitglieder der arabischen Großfamilie A., denen vorgeworfen wird, teure Sportwagen illegal vermietet zu haben. 

Angeklagte werden von   Top-Anwälten vertreten

Nach Angaben eines Polizeibeamten ist ihre Vorgehensweise bereits länger bekannt. Die Autovermietungen kaufen Autos in großen Stückzahlen und melden dann plötzlich einige der Fahrzeuge als gestohlen. Des öfteren werden sie auch über undurchsichtige Wege an Kriminelle vermietet, die die Autos bei Überfällen als Fluchtwagen nutzen. Anschließend verschwinden die teuren Limousinen. Zuletzt soll im Februar 2016 ein hochmotorisierter VW Phaeton von „Upper Cars“ bei einem Juwelierraub in Kassel benutzt worden sein. 

Die dubiosen Autovermietungen sind neben den klassischen Formen der Organisierten Kriminalität wie dem Drogenhandel oder der Prostitution nur ein kleiner Teil des wirtschaftlichen Netzwerks der arabischen Clans in Berlin. Ihre kriminelle Energie breitet sich seit Jahren wie ein Schatten über der Hauptstadt aus. Ein Raub im berühmten Kaufhaus des Westens (KaDeWe), der Einbruch ins Bodemuseum samt Diebstahl einer hundert Kilo schweren Goldmünze, ein Überfall auf ein Pokerturnier in der Spielbank am Potsdamer Platz – bei fast jeder spektakulären Straftat führen die Ermittlungen zu den Großfamilien. 

So wurde Ende 2011 ein Mitglied der Familie A. als Drahtzieher des Pokerraubs verurteilt. Derzeit läuft vor dem Amtsgericht Tiergarten wegen eines fehlgeschlagenen Auftragsmordes ein Prozeß gegen Angehörige der Familie Al-Z. Mehrere der Angeklagten sollen auch am Raubüberfall auf das KaDeWe im Winter 2014 beteiligt gewesen sein. Obwohl ein Großteil der Angeklagten offiziell auf staatliche Hilfe angewiesen ist, liest sich die Liste ihrer Verteidiger wie ein „Who is who“ der Berliner Top-Strafrechtler. Mit Walter Venedey und Mark C. Höfler sind zwei Anwälte aus der Kanzlei des Linken-Bundestagsabgeordneten Gregor Gysi in der illustren Runde vertreten, ebenfall Rüdiger Portius, der Ehemann der Grünen-Politikerin Renate Künast. 

Die genaue Anzahl der Clans in Berlin läßt sich nur schwer bestimmen. Einige Ermittler sprechen von rund zwölf Familien mit bis zu 9.000 Mitgliedern, wobei fünf bis sieben Familien regelmäßig ins Visier der Behörden geraten würden. Dennoch richten sich Ermittlungen „ausschließlich gegen einzelne kriminelle Personen beziehungsweise Gruppierungen, nicht aber gegen gesamte Familienstrukturen“, wie die Polizei auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT mitteilt.

Die Familien kamen während des libanesischen Bürgerkrieges in den achtziger Jahren nach Deutschland und zogen in die günstigen Viertel der Hauptstadt – nach Kreuzberg, Wedding, Moabit oder Neukölln. Der Großteil von ihnen lebte schon im Libanon als Flüchtlinge, weil sie als arabisch-kurdische Minderheit aus der Türkei oder als Palästinenser aus Israel geflohen waren. 

Die Asylanträge der Familien wurden in der Bundesrepublik abgelehnt, eine Abschiebung erfolgte in der Regel aber nicht, weil nach der Genfer Konvention eine Abschiebung in ein Land, in dem Gefahr für das Leben wegen Gruppenverfolgung besteht, unzulässig ist. Weil die Lebensbedingungen in ihrer Heimat unattraktiver sind als die in Deutschland, bewegte die ehemaligen Flüchtlinge nichts dazu, in ihr Land zurückzukehren. Hierzulande verharrten sie am Rand der Gesellschaft. Ihre in der Heimat zur Normalität gehörende Clanstruktur verfestigte sich. Als später gemäß der gesetzlichen Altfallregelung die Integration in die Mehrheitsgesellschaft möglich geworden wäre, verblieben sie dennoch, wo sie waren: abgeschottet in einer Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln, in der man bevorzugt untereinander heiratet. 

In diesen Kollektiven spielt das Individuum keine Rolle; der einzelne wird als ein unablösbarer Teil des Ganzen betrachtet. Im Falle einer Bedrohung eines Clanmitglieds oder des gesamten Clans ist die Verteidigung der Stammesehre eine heilige Pflicht für alle Angehörigen.  „Das Unterlassen von Hilfeleistung wird im Gewohnheitsrecht der Stammesmentalität als ‘Schande’ gesehen und kann bis hin zur sozialen Ausgrenzung und im schlimmsten Fall sogar zur Verstoßung aus der Stammesfamilie führen“, schreibt Mathias Rohe, Islamwissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg.

Mit Behörden wie der Polizei wollen diese Leute möglichst nichts zu tun haben. Konflikte werden mit Hilfe von sogenannten Friedensrichtern am liebsten untereinander geregelt. Als es 2012 mitten auf der Sonnenallee in Neukölln zum Streit zwischen zwei Familienclans kam, zückte einer der Beteiligten eine Pistole. Die Situation eskalierte. Im Anschluß flog ein Angehöriger nach Beirut, um die Fehde über einflußreiche Verwandte regeln zu lassen. Die Polizei erhielt erst im nachhinein Kenntnis von dieser Reise. Auch in Berlin vermitteln Gesandte zwischen Familien, manchmal sind es Imame aus den Moscheen.

In manchen Gegenden reiche es, bestimmte Familiennamen nur zu nennen, um „Probleme aus dem Weg zu räumen“, weiß Arnold Mengelkoch, Integrationsbeauftragter des Bezirks Neukölln. Personen, die rechtsstaatliche Strukturen einfach ignorieren – das sei auch für einige Neuankömmlinge sehr attraktiv. „Flüchtlinge sehen, da gibt es Leute, die machen, was sie wollen. Das kommt an“, sagt Mengelkoch. Insider berichten, daß Mitglieder der Großfamilien Flüchtlinge direkt vor ihren Notunterkünften rekrutieren und als Drogenverkäufer einsetzen. Die Flüchtlinge sind meist noch nicht auffällig geworden und fallen unter das Jugendstrafrecht. Da sie nur als Handlanger eingesetzt werden, haben sie keinen Zugang zu den inneren Kreisen der Organisation – und können im Ernstfall nichts Belastendes aussagen. Für die Clans besteht also kein Risiko. 

Zugleich bietet die Masseneinwanderung die Chance, neue Geschäftsfelder zu erschließen. Die intelligenten Clan-Chefs haben begriffen, wie sie illegal verdientes Geld legal anlegen können. Über Mittelsmänner, die in bar ausbezahlt werden, investieren sie großflächig in Immobilien. In den Mietshäusern betreiben die Großfamilien dann Flüchtlingsunterkünfte. Darin bringen sie so viele Menschen wie möglich unter und kassieren vom Staat die Gebühren. Parallel dazu werden benötigte Wachschutzunternehmen gegründet, die ebenfalls unter ihrer Kontrolle stehen.

Kriminalpolizisten warnen vor Unterwanderung

Beim Eintritt des illegal erwirtschafteten Geldes in den legalen Finanzkreislauf treffen Berufskriminelle nicht selten auch auf deutsche Geschäftsleute. Vor drei Jahren flog ein Krankenhausvorstand auf, der von einem einschlägig bekannten Berliner mit arabischen Wurzeln 20.000 Euro zugesteckt bekommen hatte. So wollte der Deutsch-Araber an einen gut dotierten Auftrag für den Krankenhaus-Winterdienst kommen. Pech für den Klinikmanager: Das Clanmitglied wurde von der Drogenfahndung überwacht. 

Um solche undurchsichtigen Finanzgeschäfte am Rande der Legalität besser überwachen zu können, trat am 1. Juli das „Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung“ in Kraft. Die Justiz verfügt seitdem über das Instrument, Vermögen unklarer Herkunft einzuziehen. Besteht kein vernünftiger Zweifel daran, daß das Geld aus gesetzeswidrigen Handlungen stammt, kann es künftig auch dann beschlagnahmt werden, wenn die konkrete Straftat nicht nachzuweisen ist. Ein erheblicher Vorteil gegenüber den kriminellen Großfamilien, deren Mitglieder offiziell keiner Arbeit nachgehen, die aber Häuser, Luxusautos und andere Wertgegenstände besitzen. 

Ob der Einfluß der Berliner Clans damit beschnitten werden kann, ist jedoch mehr als fraglich. „Wir haben inzwischen mehrere Hinweise von Kollegen, daß kriminelle Clans ganz gezielt versuchen, deutschlandweit in die Schaltstellen von Justiz, aber auch Wirtschaft, Politik und andere Bereiche der öffentlichen Verwaltung einzudringen“, warnt Ulf Küch, Vizepräsident des Bunds Deutscher Kriminalbeamter. Der deutsche Staat habe das Problem jahrelang ausgeblendet. Die Konsequenzen seien nun zu spüren. Derzeitige Ermittlungen an der Berliner Polizeiakademie (JF 46/17) sind demnach nur die Spitze des Eisbergs.

 Immer tiefer graben sich die Familien ins Geschäftsleben der Stadt ein. Sie betreiben Restaurants, Shisha-Bars, Nachtklubs und betätigen sich sogar im Kunsthandel. „Einige“, sagt Dirk Jacob vom Landeskriminalamt Berlin, „führen mittlerweile ein fast schon normales Leben und verwalten ihr Vermögen.“ Auch andere Quellen bestätigen den gegenwärtig stattfindenden Übergang in eine Art Scheinlegalität, gerade in der nachwachsenden Generation. Gleichzeitig zwingen die Clans dem Nachwuchs ihre kulturellen Wertvorstellungen auf, wodurch es innerhalb der Familien zu massiven Spannungen kommt. In diesem Spagat ist es jüngeren Mitgliedern fast unmöglich, aus den vorhandenen Strukturen auszubrechen. 

Daß viele der Jüngeren diesen Schritt auch gar nicht wollen und teilweise radikaler agieren als ihre Eltern, zeigt das Beispiel der Autovermietung „Upper Cars“. Schnelles Geld und schnelle Autos sind für einige eben doch spannender als ein bürgerliches Leben ohne Macht und Einfluß. 





Arabische Clans in Berlin

In Berlin zählt das Landeskriminalamt zehn bis zwölf arabische Großfamilien mit rund 9.000 Angehörigen. Der Großteil von ihnen kann dabei zwei Ethnien zugerechnet werden. Die sogenannten Mhallamiye-Kurden lebten ursprünglich als kleine Minderheit in der Türkei. Sie fielen nicht nur als Kurden unter Türken auf, sondern auch als Arabischsprechende unter Kurdischsprechenden. In den zwanziger bis vierziger Jahren wanderten sie daher in den Libanon aus. Genau wie die zweite Gruppe, aus Israel geflohene Palästinenser, erhielten sie im Libanon jedoch keine Staatsbürgerschaft. Durch diese Umstände verstärkten sich die im arabischen Raum ohnehin schon vorherrschenden Clanstrukturen. Staatliche Autoritäten wurden weitestgehend abgelehnt. In den Wirren des libanesischen Bürgerkriegs (1975–1990) zog es die Familien schließlich nach Deutschland, wo sie sich vor allem in Berlin, Bremen und Essen ansiedelten. Da sie keine Ausweispapiere vorlegen konnten, wurden ihre Asylanträge immer wieder abgelehnt. Gleichzeitig konnten die Ausländerbehörden sie aus denselben Gründen nicht abschieben. In Deutschland geduldet, aber ohne Arbeitserlaubnis, nutzten die Clans relativ schnell ihre straffe Organisation, um in der Berliner Unterwelt Fuß zu fassen.