© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/17 / 17. November 2017

Wettstreit der Systeme
Fachkräftemangel: Die Staaten West- und Osteuropas reagieren mit völlig unterschiedlichen Lösungsansätzen / Kinder- oder Zuwanderungsförderung?
Sandro Serafin

Die Zahlen sind eindeutig: Tschechien hat Deutschland in Sachen Arbeitslosenquote unterboten. In Böhmen und Mähren gingen 2016 nur vier Prozent der 15- bis 74jährigen Erwerbsbevölkerung keiner geregelten Beschäftigung nach. Mehr als ein Prozentpunkt weniger als noch 2015. In Deutschland sank die Quote leicht von 4,6 auf 4,1 Prozent, pendelte sich damit jedoch über dem tschechischen Niveau ein. Deutschland belegt im europäischen Vergleich nun Platz zwei.

Auffällig ist, daß neben nordischen oder westlich geprägten Ländern wie Großbritannien oder Norwegen auch die Transformationsländer Mittelosteuropas kaum mit hohen Arbeitslosenzahlen zu kämpfen haben: In Ungarn lag die Arbeitslosenquote bei 5,1, in Polen bei 6,2 Prozent – Tendenz sinkend. Lediglich die Slowakei überschritt als einziges Mitglied der sogenannten Visegrád-Gruppe (Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn) 2016 mit einer Quote von 9,7 Prozent den EU-Durchschnittswert. Dieser pendelte sich 0,8 Prozentpunkte unter dem Vorjahresniveau bei 8,6 Prozent ein.

Knapperes Arbeitsangebot führt zu höheren Löhnen

Für die Länder des Nordens, der Mitte und des Ostens bedeutet dies erst einmal viel Gutes. Die Bevölkerung freut sich über wachsenden Wohlstand. Die Löhne steigen – im tschechischen Durchschnitt im vierten Quartal 2016 um ganze 4,2 Prozent im Vergleich zum allerdings recht niedrigen Niveau des Vorjahreszeitraums. Zurückzuführen sind diese Zunahmen auf das schrumpfende Arbeitskräfteangebot. Dier tschechische Arbeitslosenquote von vier Prozent führt das 10,6-Millionen-Land – unter Berücksichtigung der Sockelarbeitslosigkeit – an den Rand einer Vollbeschäftigung. Das Angebot sinkt, der Wert der verbliebenen Arbeitskräfte, um die sich nun alle Firmen scharen, steigt. Der inländische Arbeitsmarkt ist nahezu leergefegt.

Mittelfristig werden die sinkenden Arbeitslosenquoten bei den jeweiligen Regierungen daher auch als Alarmsignal aufgefaßt. Manche Branchen kämpfen schon mit einem akuten Fachkräftemangel. So hatten in einer – wenn auch nicht repräsentativen – Umfrage der polnischen Personalagentur Bigram 2016 72 Prozent der befragten kleinen und mittelständischen Unternehmen angegeben, Rekrutierungsprobleme zu haben. Sollte dieses Problem längerfristig erhalten bleiben, drohe eine Rezession.

Kein Wunder also, daß in den betroffenen Regionen schon länger verzweifelt nach Lösungen gesucht wird. So ähnlich sich die Problematik für Deutschland und die Länder des Nordens auf der einen, die Visegrád-Staaten auf der anderen Seite dabei darstellt: Bei der Problem-Bewältigung gehen die Staatengruppen radikal unterschiedliche Wege. Im „weltoffenen“ West- und Nordeuropa versucht man die Überwindung des Arbeitskräftemangels mit der Agenda zur Schaffung einer multikulturellen Gesellschaft zu verknüpfen. „Kompensation durch Migration“ lautet das Motto.

In Deutschland fordern inzwischen Abeitgeberverbände, DGB-Gewerkschaften, Wirtschaftsexperten und Politiker aller Parteien – von links bis sogar in die AfD hinein – die Einführung eines Einwanderungsgesetzes. Wahlweise wird mal das kanadische Punktesystem (JF 45/17), mal das Modell Australiens als Vorbild genannt. Immer steht dahinter das Eingeständnis: Mit einem innerdeutschen Ansatz allein läßt sich das Problem nicht lösen.

In Osteuropa stößt diese Erkenntnis und der damit verbundene Weg des Kompensierens auf radikale Ablehnung. Erst kürzlich erklärte das wohl bekannteste Gesicht aus den Reihen der Visegrád-Vier, Ungarns Premier Viktor Orbán, Osteuropa zur „migrantenfreien Zone“. Eine Wortwahl, die auch Polens sozialkonservative Führungsriege um Ministerpräsidentin Beata Szydlo und PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski unterschreiben würde, die aber auch bei postkommunistischschen Regierungschefs, wie dem Slowaken Robert Fico, oder dessen künftigem Prager Amtskollegen Andrej Babiš auf Zustimmung stößt.

Die Schaffung einer Einwanderungsgesellschaft als Mittel zum Zweck ist für das Visegrád-Quartett – trotz eloquenter kleiner Minderheiten von Chinesen, Russen, Ukrainern oder Vietnamesen – jedenfalls keine erträgliche Option. Stattdessen setzt man auf einen endogenen Lösungsweg, der seine Wurzeln ausgerechnet in Deutschland hat. So will etwa die polnische Regierung nach Vorbild des westlichen Nachbarn das Bildungswesen reformieren und den stärker praxisorientierten dualen Ausbildungsweg als Alternative zu einem akademischen Werdegang im gesellschaftlichen Ansehen aufwerten.

Am Ende soll eine „Berufsschule für das 21. Jahrhundert“ stehen. Firmen und Schulen sollen eng kooperieren und ausloten, in welchen Fachbereichen der Bedarf an Arbeitskräften besonders groß ist. In der Slowakei und Ungarn geht man bereits ähnliche Wege. Gleichzeitig wird die Gründung von Familien finanziell unterstützt, um einer Verschärfung des Arbeitskräftemangels vorzubeugen. So stehen polnischen Eheleuten mit mehr als einem Kind nach dem Förderprogramm „Familie 500 Plus“ nun 500 Zloty (118 Euro) pro Kind und Monat zu – ein Achtel des Durchschnittslohns. Auf deutsche Verhältnisse übersetzt wären das umgerechnet 384 Euro – doppelt soviel wie derzeit hierzulande.

Klar ist in jedem Fall: Auch in dieser Angelegenheit wird die Existenz eines innereuropäischen Ost-West-Risses deutlich, der sich längst nicht mehr nur an der Flüchtlingsfrage manifestiert. Der Wettstreit der Systeme in der EU hat auch das Gebiet der Arbeitsmarktpolitik erreicht. Während der Osten noch versucht, die Fachkräfteproblematik „intern“ zu lösen, hat der Westen die Hoffnung darauf aufgegeben – oder aber gar nicht erst gehegt. Die EU-Kommission hat sich 2016 die „Erleichterung legaler Wege nach Europa“ auf ihre Einwanderungsagenda gesetzt.

Aktuelle Beschäftigungsstatistiken der EU: ec.europa.eu