© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

„Eine neue Normalität“
Wie geht es weiter in Berlin? Finden die Parteien einen Weg aus der Krise oder muß bald neu gewählt werden? Wer wird dann Gewinner, wer Verlierer sein? Der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter sieht Deutschland am Beginn einer neuen politischen Epoche
Moritz Schwarz

Herr Professor Oberreuter, muß Merkel weg?

Heinrich Oberreuter: Nein. Aber die Diskussion darüber ist nicht unverständlich. Schließlich gibt es Kritik an ihrer Verhandlungsführung in den Sondierungen und an ihrem politischen Profil.

Tritt Merkel ab, gilt dies in der SPD als „neue Situation“, in der man sein Nein zur Großen Koalition überdenken könne. Ist der Rücktritt also nicht ihre staatspolitische Pflicht, wenn es der Kanzlerin tatsächlich um das Land geht, wie Sie behauptet?

Oberreuter: Mit dem Begriff „staatspolitische Pflicht“ wäre ich zurückhaltend. Allerdings auch wenn die SPD versucht, den Eindruck zu erwecken, sie würde sich darauf nicht einlassen – ich kann mir gut vorstellen, daß Personalrochaden bei den Überlegungen der Sozialdemokraten eine Rolle spielen. Und daß sie das „Opfer“ ihrer Regierungsbeteiligung durch ein Opfer auf der Gegenseite aufwiegen möchten. Doch, würde die Union sich darauf einlassen?  

Gerhard Schröder hat 2005 seine Kanzlerschaft riskiert (und verloren), um eine Situation staatspolitisch zu bereinigen. Muß Merkel sich daran nicht messen lassen? 

Oberreuter: Ich will nicht ausschließen, daß sie nicht nur an sich, sondern auch an das Gemeinwohl denkt. Aber ob sie bereit ist, so weit zu gehen, kann ich nicht sagen. Doch ist das auch nicht der Punkt, sondern der Umstand, daß wir nun in einer Lage sind, die unser Grundgesetz eigentlich vermeiden will.

Und wer trägt dafür die Schuld?

Oberreuter: Nun, die Wähler haben ein Ergebnis erzeugt, mit dem sich die Parteien schwertun. 

Kann man den Wählern einen Vorwurf machen? Es sind doch die Parteien, die sich mit ihren Animositäten im Grunde weigern, das Ergebnis anzunehmen.

Oberreuter: Ich habe den Wählern keinen Vorwurf gemacht. Aber so einfach, wie Sie sagen, ist es auch nicht. Denn die Wähler einer Partei haben Ansprüche, und dazu gehört, daß gewisse Konzessionen ausgeschlossen bleiben, sei es aus praktisch-inhaltlichen oder aus weltanschaulichen Gründen. Umgekehrt könnte man sogar sagen, beliebige Koalitionsbildung allein um der Regierungsfähigkeit willen wäre „Verrat“ am Wähler.

Wenn Merkel keine „neue Situation“ schafft und die SPD beim Nein bleibt, könnte es dann zu einer Minderheitsregierung kommen, oder ist das unrealistisch?

Oberreuter: Zunächst wird nun intensiv auf die SPD eingewirkt werden, und wir sollten abwarten, ob sich Martin Schulz mit seinem Nein wirklich durchsetzen kann. Zu Ihrer Frage: Möglich ist alles. Aber ist es auch funktionsfähig? Deutschland ist nicht Dänemark oder Norwegen, sondern führende Nation in der Mitte Europas mit tragender politischer und ökonomischer Verantwortung. Da wäre eine Regierung, die auf Duldung oder wechselnde Mehrheiten angewiesen ist ein Stabilitätsrisiko, das ich gerne vermieden sehen möchte. 

Dann wären Neuwahlen die logische Folge. Die allerdings sollen angeblich etwa so ausgehen wie die letzten. Wahrscheinliche Folge wäre eine Große Koalition. Und da fragt sich doch der Wähler: Was soll das? Warum nicht gleich? Neuwahlen nur als Extrawurst für eine schmollende SPD? 

Oberreuter: Sie wagen sich ganz schön weit vor. Denn die meisten bisherigen Umfragen sind noch unbeeinflußt vom Scheitern der Sondierungsverhandlungen. Tatsächlich wissen wir noch nicht wirklich, wie die Wähler darauf reagieren, und wir haben auch noch keine vergleichbare Situation erlebt. Möglicherweise werden die Umfrageergebnisse in ein paar Tagen ganz anders aussehen als vor dem Scheitern der Sondierungen. Und falls das so sein sollte, kann das auch die Stimmung in den Parteien maßgeblich ändern. Sie sehen, wie spekulativ das alles ist. Doch selbst wenn sich die Umfragen künftig nicht von den bisherigen unterscheiden, wäre eine erneute Befragung der Bürger durch Neuwahlen so falsch nicht. Denn auch wenn am Ende das gleiche Ergebnis stehen sollte – Große Koalition –, wäre das eine zusätzliche Legitimation. Und das macht schon etwas aus.

Sind Neuwahlen also nichts für den Notfall Reserviertes, das man eigentlich vermeiden sollte, sondern etwas, was man einfach „mal machen“ kann, um nicht über seinen Schatten springen zu müssen? 

Oberreuter: Nein. Dem Grundgesetz wohnt – nach den Erfahrungen von Weimar – ein Streben nach Stabilität inne. Und an dieses Prinzip sollten wir uns halten. Andererseits wird der Bundestag in Zukunft fragmentierter sein als wir das gewohnt sind, und wir müssen lernen, damit umzugehen. Das bedeutet eine neue Normalität. Umstände, die uns früher fast unvorstellbar erschienen sind, werden künftig nichts so Außergewöhnliches mehr sein. Das heißt aber nicht, daß wir das auf die leichte Schulter nehmen sollten.

Diese Lage ist also keine Ausnahme auf dem Weg zurück zu Zuständen wie davor, sondern Beginn einer neuen Normalität?

Oberreuter: Auch bei uns kommt nun mal die Entwicklung an, die wir in ganz Europa erleben.           

Wird aber nicht zu leichtfertig von Neuwahlen gesprochen, wenn zuvor nicht wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind? Ist es in diesem Zusammenhang richtig, daß eine schwarz-blaue Koalition kategorisch tabuisiert wird?

Oberreuter: Nochmal: Parteien haben Wähler, und viele davon sind sehr empfindlich, was das Vertrauen angeht, das sie ihrer Partei schenken. Parteien können also keineswegs ungestraft machen, was sie wollen. Zudem gibt es Konstellationen, die nicht dauerhaft funktionieren. Wäre das bei Schwarz-Blau der Fall? Und was die AfD speziell angeht – mal abgesehen, wie man inhaltlich zu ihr steht –, sie hat, wie wir in den Landtagen sehen, erhebliche professionelle Defizite und erscheint nicht regierungsfähig.

Wäre die AfD Profiteur von Neuwahlen, wie immer wieder gemutmaßt wird?

Oberreuter: Das könnte sein, doch halte ich das keineswegs für ausgemacht. Beides ist möglich, sowohl, daß die Parteien an den Rändern bei Neuwahlen hinzugewinnen, weil noch mehr Bürger sich enttäuscht von den herkömmlichen Parteien abwenden. Wie, daß sie gegenüber der Wahl vom September verlieren, weil Protestwähler, über die jetzigen Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung erschreckt, zu den Parteien der Mitte zurückkehren, um die Krise zu beenden. Und ebenso wäre es möglich, daß beide Effekte eintreten, sich ausgleichen und die Parteien auf den Flügeln das gleiche Ergebnis erzielen wie zuvor. Sie sehen, man muß mit allem rechnen, da wir einfach noch zu wenig Daten und Erfahrung in dieser neuen Situation haben.

Wieso gehen wir überhaupt davon aus, daß Neuwahlen ähnliche Ergebnisse bringen – die wären erst in mehreren Monaten? 

Oberreuter: Eben, und bis dahin kann alles mögliche passieren. Wir gehen immer noch viel zu sehr von „landläufigen“ Ansichten aus, die sich leicht als völlig irrig erweisen können. Wir wissen etwa nicht, ob die Wähler der SPD ihr Nein als Verweigerungs- oder als konsequente Haltung auslegen werden. Oder ob sie der FDP ihr Verhalten als verantwortungsbewußt gegenüber liberalen Werten oder verantwortungslos gegenüber der politischen Stabilität anrechnen.  

Viele hätten vermutet, wenn dann scheitern die Sondierungen an der CSU.        

Oberreuter: Das sind eben diese landläufigen Meinungen. Natürlich haben die eine gewisse Berechtigung, aber eben nicht mehr in jeder Hinsicht. Offenbar kamen CSU und Grüne doch eher zusammen als FDP und Grüne. 

Muß das nicht enttäuschend für viele CSU-Wähler sein, denn bedeutet es nicht, daß die Bayern bereit waren, konservative Inhalte zu opfern?

Oberreuter: Das mag, muß aber nicht so sein. Gerne würde ich die Verhandlungsprotokolle lesen, um zu erfahren, welche Seite wie weit gegangen ist. Immerhin hat der CSU-Landtagsfraktionschef gesagt, daß eine Minderheitsregierung mit den Grünen für ihn nicht drin wäre. So angenähert hat man sich also offenbar doch nicht.   

Allerdings hat Angela Merkel betont, sie bedauere den Ausstieg der FDP auch, da „wir“ mit den Grünen eine Einigung in der Einwanderungsfrage gefunden hätten. Meint „wir“ nicht auch die CSU?  Haben sich die Christsozialen also bei dem Thema breitschlagen lassen?  

Oberreuter: Das ist die Frage, denn solche Äußerungen sind interpretationsbedürftig. Angeblich wurde die 200.000-Obergrenze der CSU im Grundsatz anerkannt. Dann ging es um die Frage des Familiennachzugs, über den man sich noch nicht geeinigt hatte. Über den man sich aber, hätte man weiterverhandelt, hätte einigen können. Wie genau, das bleibt Spekulation.

Ist die CSU heimlich froh, daß der Kelch „Jamaika“ an ihr vorübergegangen ist?

Oberreuter: Auch das ist schwer zu sagen. Sicher wären viele CSU-Wähler unglücklich über eine Regierung mit den Grünen gewesen. Auf der anderen Seite ist eine Beteiligung an der Bundesregierung für die Bedeutung der CSU in der Heimat wichtig. Wahrscheinlich ist das Schlucken der grünen Kröte das kleinere Übel im Vergleich dazu, nicht mit an der Regierung zu sein.     

Warum wird seit dem Scheitern der Sondierungen erneut über die Zukunft Horst Seehofers diskutiert? Er trägt daran doch die geringste Schuld.

Oberreuter: Darüber wird nicht „erneut“, sondern andauernd – zumindest in Bayern – diskutiert. Warum? Weil das Söder-Lager sich nicht an die Absprache gehalten hat, während der Sondierungen nicht über Personalfragen zu sprechen. Mit dem Effekt, daß eine publizistische Stimmung für die Realität gehalten wird. Denn tatsächlich steht Seehofer keineswegs so zur Disposition, wie es in der Publizistik aufgrund der eifrigen Aktivitäten der Söderianer den Anschein hat.

Der Wechsel zu Söder dauert also noch?

Oberreuter: Kommt er überhaupt? Weder Seehofer noch Söder haben „die“ Partei hinter sich, sondern nur Teile. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß es lachende Dritte geben könnte.

Nämlich? 

Oberreuter: Denkbar wäre der EVP-Fraktionschef im EU-Parlament Manfred Weber, ebenso wie Innenminister Joachim Herrmann oder Wirtschaftsministerin Ilse Aigner. Und neuerdings auch Alexander Dobrindt, Chef der Landesgruppe im Bundestag. Wir wissen es nicht.

Wenn es im Frühjahr tatsächlich Neuwahlen gibt, welchen Einfluß hätte das auf die bayerische Landtagswahl im Herbst?

Oberreuter: Da wir nicht wissen, wie Neuwahlen ausgehen werden, kann Ihnen das keiner sagen. Auf jeden Fall aber wäre die CSU gut beraten, sich daran zu gewöhnen, daß nicht fünfzig, sondern um die vierzig Prozent ihre neue Realität ist, sie damit aber – angesichts dessen, daß die neue Realität der CDU an der Dreißig- , die der SPD an der Zwanzig-Prozent-Grenze liegt – noch recht komfortabel bedient ist. 






Prof. Dr. Heinrich Oberreuter, der Politikwissenschaftler an der Universität Passau war Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing und des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung der TU Dresden. Als CSU-Experte ist er immer wieder zu Gast in Presse, Funk und Fernsehen. Die Landtage von Bayern, Sachsen und Rheinland-Pfalz beriet er als Sachverständiger. Der 1942 geborene Breslauer dozierte zudem an den Universitäten Harvard, Columbia, Georgetown, Peking sowie an der Sorbonne und der Akademie der Wissenschaften in Moskau.

Foto: Dunkle Wolken der Ungewißheit über dem Berliner Reichstag: „Umstände, die uns früher fast unvorstellbar erschienen sind, werden künftig nichts so Außergewöhnliches mehr sein“

 

weitere Interview-Partner der JF