© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Nur ein Vorgeschmack
Familiennachzug: Belastbare Zahlen sind nicht zu bekommen, aber Schätzungen reichen bis zu mehreren hunderttausend berechtigten Angehörigen
Peter Möller

In der unübersichtlichen Diskussion über den Familiennachzug scheint eigentlich nur eines klar zu sein: Wie viele zusätzliche Flüchtlinge am Ende tatsächlich kommen, kann niemand vorhersagen. Die Zahlen reichen je nach politischer Interessenlage und Berechnungsgrundlage von einigen zehntausend bis hin zu mehreren hunderttausend Ausländern, die ihren Angehörigen nach Deutschland folgen wollen.

40 Prozent der Migranten geben familiäre Gründe an

Einen Hinweis darauf, wohin sich die Zahlen entwickeln könnten, geben Berechnungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) vom September 2016. Demnach rechnet die Behörde mit 0,7 bis 1,1 Familienangehörigen pro Flüchtling aus Syrien, beziehungsweise 0,8 bis 1,3 (Irak) und 0,7 bis 1,2 (Afghanistan). Würden sich diese Werte als zutreffend erweisen, könnten den bereits in Deutschland befindlichen Flüchtlingen tatsächlich mehrere hunderttausend Familienangehörige folgen. Doch auch diese Zahlen beruhen nur auf Schätzungen, und so gab sich das Bundesinnenministerium am Wochenende angesichts der zu diesem Zeitpunkt noch andauernden Jamaika-Sondierungen äußerst zugeknöpft: „Die Entwicklung des Familiennachzugs ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, nicht zuletzt der Entwicklung der Situation in Syrien. Eine Prognose des Zugangs 2018 ist daher nicht möglich“, teilte das Innenministerium auf Anfrage der Welt mit.

Die innenpolitischen Sprecher von CDU/CSU in Bund und Ländern stellten bei ihrer Herbstkonferenz unterdessen eine weitreichende Forderung auf: Der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte müsse vollständig abgeschafft werden. 

Zumindest eine Ahnung davon, welche Rolle der Familie bei den aktuellen Wanderungsbewegungen zukommt, gibt eine jetzt veröffentlichte Untersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Demnach sind 2015 allein in die reichen Industriestaaten knapp zwei Millionen Menschen eingewandert, die hauptsächlich ihren Ehepartner, einen Elternteil oder einen anderen Verwandten begleitet haben oder diesem gefolgt sind. In Europa waren das allein 400.000 Personen. Insgesamt gaben laut OECD 40 Prozent aller Einwanderer familiäre Gründe dafür an, warum sie ihre Heimat verlassen haben.

Die Zahlen der OECD machen daneben auch deutlich, daß Deutschland mittlerweile im Zentrum der weltweiten Wanderungsbewegungen steht. So kamen 2015 mit zwei Millionen Ausländern fast doppelt so viele Menschen nach Deutschland wie in die USA, einem klassischen Einwanderungsland.

Wie schwierig das Thema Familiennachzug auch jenseits aller Zahlenspekulationen ist, zeigt aktuell das Beispiel Griechenland. Dort sitzen seit Monaten Tausende Syrer, Afghanen und Iraker fest, die laut Bamf zu ihren Angehörigen in Deutschland reisen dürfen. Grundlage hierfür ist die Dublin-III-Verordnung, nach der das Land, in dem ein Flüchtling einen Asylantrag gestellt hat, auch für weitere Anträge enger Familienmitglieder zuständig ist.

Doch dieser Familiennachzug aus Griechenland stockt. So wurden im Oktober lediglich 268 Flüchtlinge aus Griechenland nach Deutschland geholt, teilte das Bundesinnenministerium mit. Die Zahlen schwanken, im März waren es fast 500, danach sanken die Zahlen im Sommer auf 82 bis 120 monatlich. „Für die schwankenden Überstellungszahlen sind teilweise objektive Umstände verantwortlich, auf die die Bundesregierung keinen Einfluß hat“, heißt es aus dem Innenministerium auf Anfrage der Neuen Osnabrücker Zeitung. Dennoch streuten Kritiker immer wieder das Gerücht, es gebe zwischen Berlin und Athen eine Absprache, das Verfahren zu hintertreiben. Die Bundesregierung weist indes die Vorwürfe einer mit Griechenland verabredeten Verlangsamung des Familiennachzugs zurück. „Es gibt kontinuierlich Aufnahmen von Familienangehörigen, die in Griechenland aufhältig sind, nach der Dublin-Verordnung“, stellte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums in der vergangenen Woche klar.

Doch diese Diskussionen wirken angesichts aktueller Äußerungen des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, zur möglichen Entwicklung von Wanderungsbewegungen nach Europa nur wie ein Vorgeschmack. Kahl sprach vorige Woche auf einer Veranstaltung in München laut Süddeutscher Zeitung von „weit mehr als einer Milliarde Menschen“, die einen „rationalen Grund“ hätten, sich auf den Weg zu machen. „Der Migrationsdruck auf Eu­ropa wird zunehmen. Fraglich ist, ob die europäischen Regierungen es schaffen, Steuerungspotential aufrechtzuerhalten oder neu zu kreieren, um diese Entwicklung zu beeinflussen“, warnte Kahl.