© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Nach dem Reggae folgt der Blues
Keine Jamaika-Koalition: Die Liberalen haben die Notbremse gezogen und die Sondierungen mit Union und Grünen abgebrochen / Mehrere Szenarien sind nun möglich
Jörg Kürschner

Bitte nicht wieder“, lautete des Nachts die letzte öffentliche Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Scheitern der Sondierungen, die sich über vier Wochen hingezogen hatten. Keine 24 Stunden später erklärte die geschäftsführende Regierungschefin im Fernsehen, sie würde Neuwahlen einer Minderheitsregierung vorziehen. Und selbstverständlich würde sie für die CDU wieder in den Wahlkampf ziehen, als „Krisenkanzlerin“ an der Seite der ihr jetzt wieder ergebenen CSU. 

Zuvor hatte Merkel mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gesprochen, der sich anschließend gegen rasche Neuwahlen aussprach. Er begann getrennte Gespräche mit den verhinderten Koalitionären und der SPD. Nun sondierte das Staatsoberhaupt. Es hat sich die Verhandlungsprotokolle kommen lassen, um sich ein genaues Bild zu verschaffen.

Dem dramatischen Finale waren rasch gegenseitige Schuldzuweisungen gefolgt. Als Sündenbock diente die FDP, die die Sondierungsgespräche überraschend verlassen und damit deren Scheitern bewirkt hatte. Parteichef Christian Lindner nannte mehrere Gründe für das Jamaika-Aus. Sowohl beim Solidaritätszuschlag als auch in der Bildungspolitik seien Zugeständnisse ausgeblieben. So habe die CDU am Sonntag abend „ihr eigenes Wahlprogramm in Fragen des Soli“ vorgeschlagen. „Die Versuche, so zu tun, es wäre alles überbrückbar gewesen“, seien nicht richtig. Lindners Vize Wolfgang Kubicki beklagte mangelndes Vertrauen zwischen Union, FDP und Grünen. Ohne dieses aber wäre eine Regierung über vier Jahre nicht stabil genug gewesen. Die Zeiten, in denen Kubicki von Merkels „wunderbar trockenem Humor“ schwärmte – vorbei. Die Kanzlerin sei beweglich gewesen, wenn Anliegen der Grünen befriedigt werden sollten. „Auf unsere Forderungen ist sie überhaupt nicht eingegangen“, empörte sich FDP-Urgestein Hermann Otto Solms.

Bundestag hat kein Recht, sich selbst aufzulösen

Die Darstellung der FDP wurde von der Union und den Grünen in Zweifel gezogen. „Zum Greifen nahe“ sei ein Erfolg gewesen, meinte CSU-Chef Horst Seehofer. Man sei auf der „Zielgeraden“ gewesen, sagte Merkel, deren innerparteiliche Kritiker sich hinter sie stellten. Ihre Vize-Vorsitzende Julia Klöckner wurde deutlicher. „Mit „gut vorbereiteter Spontaneität“ habe Lindner den Verhandlungsraum in der baden-württembergischen Landesvertretung verlassen. Ein Abgang mit Ansage? So sehen es die Grünen. Es habe noch ein Themenpaket auf dem Tisch gelegen, aber „die hatten die Presseerklärung schon fertig“, will der linke Flügelmann Jürgen Trittin beobachtet haben.

Am Schwarze-Peter-Spiel wollten sich die Oppositionsparteien nicht beteiligen. Nach langer öffentlicher Abstinenz tauchte die SPD aus der Versenkung auf. Parteichef Martin Schulz und Fraktionschefin Andrea Nahles lehnten trotz des Scheiterns von Jamaika eine Große Koalition ab. „Staatsmännische Reserve“ sei man nicht. Notnagel, nein danke. Nahles hielt sich allerdings ein kleines Hintertürchen offen. „Vielleicht kommen wir ja auch noch einmal zu einer Neubewertung des Wählerwillens.“ Mit dem Wählerwillen hatte die SPD am Wahlabend ihren Gang in die Opposition gerechtfertigt. Der Bundespräsident hatte vor Nahles’ Pressekonferenz angekündigt, er werde auch mit den Vorsitzenden von Parteien sprechen, „bei denen programmatische Schnittmengen eine Regierungsbildung nicht ausschließen“. Nahles kommentierte den Appell ihres früheren Parteigenossen auf ihre eigene Art. „Da kann auch der Präsident kommen“, blaffte sie in Richtung Schloß Bellevue.

AfD und Linkspartei mußten sich trotz ihres Wähleranteils von knapp 22 Prozent mit Nebenrollen bescheiden. Fraktionschef Alexander Gauland forderte den Rücktritt Merkels und zeigte Genugtuung, daß Schwarz-Grün verhindert worden sei (siehe unten). Die Linke forderte Neuwahlen. Nach dem Scheitern einer Mitte-Rechts-Regierung sei nun die Zeit für eine linke Alternative gekommen, sagte Parteichefin Katja Kipping. Auf einen Gesprächstermin bei Steinmeier, in dessen Hand jetzt das weitere Verfahren liegt, können AfD und Linkspartei nicht hoffen. 

Minderheitsregierung oder Neuwahlen. Der Weg dorthin ist kompliziert, da das Grundgesetz kein Selbstauflösungsrecht des Bundestags kennt. Zunächst müßte Steinmeier dem Parlament Angela Merkel als Kandidatin vorschlagen. Stimmt in der geheimen Wahl die Mehrheit der Abgeordneten für die CDU-Politikerin, ist sie wie alle sieben Kanzler vor ihr im ersten Wahlgang gewählt. Scheitert Merkel, muß der Wahlgang innerhalb von zwei Wochen wiederholt werden. Dann können auch andere Abgeordnete kandidieren. Erneut ist die Kanzlermehrheit erforderlich, also 355 von 709 Stimmen. Der CDU/CSU-Fraktion gehören 246 Parlamentarier an. Patzt die Regierungs­chefin ein weiteres Mal, müßte sie sich ein drittes Mal zur Wahl stellen.

Komfortables „Weiter so“ nur in Großer Koalition

Zweifellos ein für Merkel demütigendes Verfahren, da sie 2005, 2009 und 2013 jeweils im ersten Wahlgang gewählt worden war. Jetzt würde die relative Mehrheit reichen. Merkel müßte also die meisten Stimmen gewinnen. In diesem Fall kann der Neuwahl-Gegner Steinmeier Merkel zur Kanzlerin einer Minderheitsregierung ernennen – er kann aber auch den Bundestag auflösen. Innerhalb von 60 Tagen müßte dann neu gewählt werden. 

Minderheitsregierungen hat es nach einer Bundestagswahl noch nie gegeben. Merkel müßte sich für jedes Gesetzesvorhaben eine Mehrheit suchen. Schwarz-Grün fehlen 42 Sitze zur Mehrheit (siehe Graphik). Die neue menschliche Nähe, der sich CDU, Grüne und sogar die CSU übereinstimmend nach den Sondierungen rühmen – parlamentarische Wirkung bliebe ihr versagt. Schwarz-Gelb käme auf 29 Sitze unterhalb der absoluten Mehrheit. Nur die Fortsetzung der Großen Koalition würde Merkel ein komfortables Weiterregieren ermöglichen. 399 Stimmen bringen CDU/CSU und SPD auf die Waage. 

Der Druck auf die SPD, staatspolitische Verantwortung zu zeigen, steigt.

(Grafiken siehe PDF)