© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Eine lokale Lösung eines lokalen Problems
Syrien: Freier Abzug für IS-Kämpfer sorgt für Unmut / USA und Großbritannien weisen Vorwürfe der Fahrlässigkeit zurück
Marc Zoellner

Jubel ertönte am vergangenen Sonntag abend in Abu Kamal: Hunderte schwer bewaffnete junge Männer hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem staubigen Platz am Rande der Kleinstadt im äußersten Südosten Syriens an der Grenze zum Irak versammelt, um als Zeichen ihres Sieges Raketen abzufeuern. Abu Kamal, verkündete ihr Befehlshaber, sei erobert worden – von den Märtyrern der „Liwa Fatemiyoun“ – einer schiitischen Freiwilligenbrigade.

Mit Abu Kamal verlor der Islamische Staat, dessen selbsternanntes Kalifat noch vor gut einem Jahr fast ein Drittel der Staatsfläche Syriens sowie weite Teile des nördlichen Irak umfaßte, am Wochenende seinen letzten städtischen Besitz in Syrien. 

Auch in Abu Kamal konnten sich IS-Kämpfer absetzen

Über fünfzig ihrer Anhänger hatte die Terrormiliz bei den Gefechten der Vorwoche eingebüßt, als die Liwa Fatemiyoun zusammen mit der syrischen Armee und der ebenfalls schiitisch geprägten libanesischen Hisbollah-Miliz die Stadt gestürmt und systematisch sämtliche Häuser nach Widerstandsnestern durchforstet hatte. Hunderte Extremisten, berichteten Beobachter, seien allerdings entkommen; in heilloser Flucht über den Euphrat nach Osten.

Die gelungene Flucht einer derart großen Anzahl an Extremisten ist durchaus dazu geeignet, die Siegesfreuden über die Einnahme Abu Kamals zu trüben: Denn zurück bleibt die Frage, wohin sich die IS-Anhänger zu retten versuchen, und ebenso jene nach möglichen Neuorientierungen oder gar Sammlungen der Terrorgruppe, um künftige Gegenstöße oder gar den kollektiven Gang in den Untergrund vorzubereiten. Zumal Abu Kamal in der jüngsten Geschichte des syrischen Bürgerkriegs keinen Einzelfall darstellt. Vergangene Woche erst wurde ein ähnlicher, jedoch weit schwerer wiegender Vorfall aus Rakka bekannt.

Gut 270 Kilometer nordwestlich Abu Kamals gelegen, diente die Großstadt Rakka dem Islamischen Staat seit dem Frühjahr 2014 als Hauptstadt seines Kalifats. Am 17. Oktober dieses Jahres gaben die von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) dominierten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) nach anderthalb Jahren der Vorbereitung und Belagerung die Befreiung Rakkas bekannt. Was sie in der einst von 200.000 arabischen Syrern bevölkerten Metropole vorfanden, waren  Ruinen, ausgebombte Straßenzüge, verlassene Stadtviertel, unzählige versteckte Sprengsätze – sowie eine Masse an IS-Kämpfern, die sich im Krankenhaus der Stadt verschanzt hielten.

Was folgte, war ein verhängnisvolles Abkommen zwischen den SDF, dem ortsansässigen Ältestenrat sowie dem Islamischen Staat: Nur wenige Tage später setzte sich ein Konvoi aus Bussen und Lastwagen in Bewegung, um Rakka in Richtung Osten zu verlassen. 

„Hunderte von IS-Kämpfern“, berichtet einer der Fahrer später dem britischen Nachrichtensender BBC, hatte der Konvoi geladen, dazu „ihre Familien sowie Tonnen an Waffen und Munition.“ Bis zu sieben Kilometer Länge habe der Troß gemessen, so der Fahrer, und ein Geschäftsinhaber erinnert sich später: „Es waren so viele Autos, daß ich sie nicht mehr zählen konnte. Sie brauchten über vier Stunden, um hier vorbeizufahren.“

Die IS-Milizen waren die letzten von gut 160.000 Menschen, die Rakka in den vergangenen Monaten aufgrund der hohen Frequenz der US-Luftangriffe sowie der anhaltenden Bombardierung der Stadt durch die kurdische YPG verlassen mußten. Doch müsse „auch gesagt werden, schrieb der russische Sputnik-Journalist Andrew Korybko bereits Mitte Juni auf der Onlineplattform Global Village Space, daß diese „rasanten Schlachtfeld‘erfolge’ ebenso durch kurdische Absprachen mit dem IS bedingt“ gewesen seien. Abkommen wie jene der tolerierten Truppenabzüge, von welchen gerade die kurdische YPG profitiert habe – so wie beispielsweise in Rakka, warnte Korybko, welches die Kurden von den Arabern gerade ethnisch säubern, und die Welt „schweige dazu“.

Wohin die gut 4.000 vom IS Evakuierten verschwanden, bleibt weiter ein Rätsel. Östlich von Rakka, berichten Augenzeugen später, sei die Kolonne plötzlich in die Wüste abgebogen. Seitdem fehlt von ihren Passagieren jegliche Spur. Das besonders Bedenkliche an dieser Nachricht: Unter den Verschwundenen fanden sich verhältnismäßig viele ausländische Dschihadisten. „Sie kamen aus Frankreich, der Türkei, Aserbaidschan, Jemen, Saudi-Arabien, China, Tunesien und Ägypten“, zählt einer der Fahrer dem BBC auf. Dieser wird bei seinen Recherchen in der Türkei, im Umfeld illegal operierender Grenzschleuser fündig. „Als der IS in Rakka zerbrach, nahmen die Schmuggler in Istanbul eine wachsende Anzahl von Gesuchen wahr, die Grenze zur Türkei zu überqueren“, berichtet ein ehemaliger IS-Kämpfer dem BBC. 

Britannien will keinen  entkommen lassen 

Für das Pentagon, welches den Konvoi noch eine Zeitlang aus der Luft überwachte, bleibt das Abkommen von Rakka die „lokale Lösung eines lokalen Problems“ – vorrangig aus der Not geboren, Zivilisten vor Kampfhandlungen zu schützen. Mit ähnlicher Begründung kommentierte Mitte November auch die britische Regierung die Anfragen mehrerer Abgeordneter zum Nichteingreifen Großbritanniens in den geordneten IS-Abzug aus Rakka. „Das war ein lokales Abkommen lokaler Führer, einschließlich des Rakka-Bürgerrates sowie der Stammesältesten“, wiegelte Baron Ahmad of Wimbledon, konservativer Staatssekretär im Amt des Auswärtigen, ab. Um diese IS-Kämpfer zu verfolgen, würde Britannien sämtliche Dienststellen vor Ort nutzen und mit der Koalition der 73 Staaten zusammenarbeiten, um sicherzustellen, daß alle, die versuchten, das Konfliktgebiet zu verlassen, noch vor Ort zur Rechenschaft gezogen würden. Eine Fahrlässigkeit im Umgang mit den IS-Militanten sei im Falle Rakkas nicht festzustellen.