© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Denkanstöße eines Gestürzten
Haftentlassung: Thomas Middelhoff geht hart mit dem deutschen Justizwesen ins Gericht
Sandro Serafin

Er könne nur hoffen und beten, daß es so kommen möge, erklärte Thomas Middelhoff am 12. Oktober in der Talksendung von Markus Lanz mit demütigem Habitus. Der Moderator hatte ihn auf eine mögliche vorzeitige Entlassung aus der Haft angesprochen, in der sich der Ex-Manager seit 2014 mit Unterbrechungen befand. Am 16. November konnte Middelhoff die JVA Senne dann tatsächlich verlassen – dank einer Weihnachtsamnestie sogar zehn Tage früher als eigentlich erwartet. Die Reststrafzeit war vom Landgericht Bielefeld zuvor zur Bewährung ausgesetzt worden. Gute Führung und die Tatsache, daß der 64jährige als Erststraftäter einsaß, machten eine Entlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der insgesamt dreijährigen Haftstrafe möglich. Die Staatsanwaltschaft legte zwar Beschwerde ein, zog sie wenige Tage später jedoch wieder zurück.

Für den ehemaligen Starmanager dürfte das Hin und Her rund um seine Entlassung in das Bild passen, das er ohnehin von der deutschen Rechtsprechung hat. Er habe so viele schlechte Erfahrungen mit der hiesigen Justiz gemacht, daß er erst an eine Entlassung glaube, wenn es tatsächlich soweit sei, hatte er noch im Oktober die eigenen Erwartungen gedämpft. Eingebuchtet wurde der Vater fünf erwachsener Kinder wegen Veruntreuung von Firmengeldern. Der ehemalige Chefmanager von Bertelsmann und Arcandor soll sich unter anderem Reisen mit einem Firmenjet zu Unrecht vom Unternehmen bezahlen lassen haben (siehe Infokasten).

„Folter in Deutschland  im 21. Jahrhundert“

Middelhoff und das deutsche Justizwesen: eine mehr als schwierige Beziehung. Schon im September hatte „Big T“, wie Middelhoff einst genannt wurde, ein Buch veröffentlicht, in dem er gnadenlos mit den Medien und Managerkollegen, vor allem aber mit der deutschen Justiz abrechnet. Ihr wirft er die Anwendung teils „menschenverachtenden“ Unrechts vor. Stinkende Zellentoiletten, despotische „Schließer“ und „Folter in Deutschland im 21. Jahrhundert“: Die präsentierte Liste des Grauens ist lang. Sein schlimmstes Erlebnis: Eine Autoimmunkrankheit sei durch einen systematischen Schlafentzug erst hervorgerufen, eine Behandlung ihm dann bewußt verweigert worden.

Wer „A115 – Der Sturz“ liest, wird unweigerlich von dem Gefühl befallen, mit einem Bericht aus dem Gefängnis eines Unrechtsstaates konfrontiert zu sein. Man kann davon ausgehen, daß Middelhoff das bewußt ist und er dieses Mittel ganz gezielt einsetzt. Das Zellen-Bett etwa beschreibt er als „Holz-Pritsche“, auf der er oftmals „erbärmlich frierend“ gelegen habe. An anderer Stelle führt er aus, daß er bei „Beschäftigung mit den Schriften Bonhoeffers“ während der Zeit im Gefängnis erkannt habe, „daß sich viele Abläufe und Strukturen des Justizvollzugs in der NS-Zeit nur geringfügig von denen im modernen Vollzug unterscheiden“. Und wenn er am Anfang eines Kapitels aus Franz Kafkas „Prozeß“ die Worte zitiert „Es ist kein Zweifel, daß hinter allen Äußerungen dieses Gerichts (...) eine große Organisation sich befindet“, sieht mancher Beobachter darin nur noch einen Ausdruck verschwörungstheoretischen Denkens eines zur Selbstreflexion unfähigen, völlig verbitterten Mannes.

Kritische Worte zur eigenen Biographie bleiben jedoch keineswegs gänzlich aus. Er sei ein „Narzißt“ gewesen, „dessen Handeln in vielerlei Hinsicht hedonistisch bestimmt gewesen“ sei, heißt es etwa an einer Stelle. Den Schwerpunkt des Buches bilden solcherlei Töne jedoch nicht. Manch einer wirft dem „umstrittensten Ex-Manager Deutschlands“ sogar vor, mit dem Buch vor allem seine eigene finanzielle Sanierung zu beabsichtigen. Denn tatsächlich ist Middelhoff pleite. Über 50 Gläubiger fordern insgesamt mehr als 400 Millionen Euro von ihm. Für den Beschuldigten ist das dennoch Unsinn. Von den durch das Buch generierten Einnahmen sehe er „keinen einzigen Cent“. Die Rechte für seine Werke soll er schon 2012 an Dritte abgetreten haben – warum auch immer.

Im Buch selbst schildert Middelhoff sein Anliegen als gänzlich altruistisch. Er wolle Licht ins Dunkel bringen. Der geschlossene Vollzug sei in der öffentlichen Wahrnehmung „wie ein großes schwarzes Loch, in dem vieles verschwindet und aus dem wenig wieder herausdringt“. Middelhoff also als Anwalt derer, die selbst keine Stimme haben. Welcher Version man nun Glauben schenkt, hängt wohl auch ganz entscheidend von der individuellen Sympathie eines jeden einzelnen für Middelhoff ab.

Ganz unabhängig davon liefert „A115 – Der Sturz“ jedoch interessante Denkanstöße zur Funktionalität unseres Justizssystems. Dient der derzeitige Umgang mit Häftlingen wirklich der Resozialisierung? Was ist mit dem Personalnotstand in den Gefängnissen? Wie ist es um Transparenz und Unabhängigkeit der deutschen Gerichte bestellt? Und: Wie verträgt sich die enorme Macht der Medien eigentlich mit rechtsstaatlichen Prinzipien? Middelhoffs Darstellungen werfen zumindest bemerkenswerte Fragen auf. Auch wenn die Nazi-Vergleiche das gesamte Buch aus eigenem Verschulden zu diskreditieren drohen: es voreilig als nicht ernst zu nehmen abzuurteilen, wäre grundfalsch. Derart detaillierte Einblicke in einen sonst eher verborgenen Bereich staatlichen Handelns bietet schließlich nicht jede Autobiographie.





Der Fall Arcandor

Thomas Middelhoff wird 1953 in eine Unternehmerfamilie hineingeboren. Schnell steigt er in die Führungsebene von Bertelsmann auf. Ab 2005 leitet er den Vorstand von Karstadt-Quelle, das er zu Arcandor umwandelt. Das Unternehmen geht insolvent. Am 14. November 2014 wird der damals 61jährige von der XV. großen Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Essen wegen Untreue in 27 und Steuerhinterziehung in drei Fällen zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Er soll Arcandor mehrfach überwiegend privat veranlaßte Flüge mit Jets oder Hubschraubern unrechtmäßig in Rechnung gestellt haben. Auch eine teure Festschrift für einen Freund und Förderer hätte Middelhoff demnach selbst bezahlen müssen. Für das Unternehmen sei durch diese Fehltritte insgesamt ein 500.000 Euro schwerer Schaden entstanden. Für Empörung sorgt vor allem, daß Middelhoff kurz vor seinem Abgang bei Arcandor noch Boni in Höhe von 2,3 Millionen Euro erhielt, als der Konzern bereits Millionenverluste einfuhr und Arbeitsplätze strich. Ein Schadensersatzprozeß gegen Middelhoff zieht sich bis heute.

Thomas Middelhoff: A115 – Der Sturz. Verlag Langen Müller, Stuttgart 2017,  gebunden, 319 Seiten, Abbildungen, 24 Euro