© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Von Germany verzaubert
Besuch im Westjordanland: Eine Welt zwischen grenzenloser Gastfreundschaft und grenzübertretendem Haß
Lukas Noll

Unzweideutig warnte der israelische Gastgeber in Haifa: „Wenn ihr erschossen werden wollt, dann fahrt ihr von Norden aus ins Westjordanland.“ Der Wirt im arabisch geprägten Nazareth war da gelassener: „Nichts als Panikmache. Erst heute habe ich Gäste empfangen, die auf diesem Wege nach Palästina gereist sind.“ 

Na, was nun? Querfeldein von Nazareth gen Süden führt die Route hinunter zum Checkpoint Jenin. Kaum anders dürften sich Maria und Josef auf den Weg zur Volkszählung in Jerusalem gemacht haben – und fast denkt man, man müsse ebenfalls laufen. So will es einem zumindest Google Maps weismachen, wo das Westjordanland (Westbank) ein Niemandsland darstellt. 

Routen empfiehlt der Online-Kartendienst nur in einem weiten Bogen um das palästinensische Autonomiegebiet herum, auch die Wetter-App will von den Städten der Palästinenser nichts wissen. Doch schlechtes Wetter gehört wahrlich nicht zu den Unsicherheiten des Nahen Ostens. Trotzdem verlassen die meisten Besucher das Autonomiegebiet, kaum haben sie sich in Bethlehem durch die Geburtsgrotte gequetscht, wieder mit dem Reisebus nach Jerusalem.

Dabei wirkt die Grenzanlage im Norden im Vergleich zu Bethlehems meterhoher Betonmauer geradezu einladend. Eine israelische Grenzsoldatin läßt die palästinensischen Checkpoint-Passanten teilnahmslos an sich vorbeiziehen. Akribische Kontrollen haben die Palästinenser zumindest in dieser Marschrichtung nicht zu befürchten, streng zeigt man sich nur bei der Einreise ins israelische Kernland. 

Besucher aus dem Ausland sind hier eher rar

Fast eindrücklicher noch als der Stacheldrahtzaun, der die Westbank von diesem trennt, ist ohnehin der abrupte Übergang von einem hochentwickelten Erste-Welt-Land mitten in ein Entwicklungsland der Dritten Welt. Wo gerade noch mit WLAN und USB-Anschlüssen bestückte Nahverkehrsbusse herumfuhren, herrscht jenseits des Zauns plötzlich das rege Treiben von herumschreienden Straßenverkäufern und einer schier unendlichen Zahl an Taxis, die sich gegenseitig im Weg stehen. 

Die Taxifahrt nach Nablus, der zweitgrößten Stadt des Westjordanlands, scheint auf den ersten Blick die israelische „Panikmache“ vor Palästinas Nordportal zu bestätigen. 

In der Gegend um Jenin, einem zur Stadt erwachsenen Flüchtlingslager,  ertönen immer wieder Schußgeräusche. „Nur Silvesterraketen“, beruhigt der Taxifahrer und macht die arabische Musik lauter. Immerhin die Radiowellen haben Palästina also auf dem Radar. Ständig hält der Fahrer an, um neue Fahrgäste ein- und auszuladen, die das Taxi als eine Art Shuttlebus gebrauchen. 

Vor der ersten Ortschaft überholt plötzlich eine Fahrzeugkolonne von beiden Seiten.  Aus den Fenstern lehnen sich palästinensische Jugendliche, hissen Banner, auf denen in martialischen Zeichnungen der Tempelberg zurückgefordert wird. Der wird zwar muslimisch verwaltet, befindet sich aber seit 1967 auf israelischem Territorium in Jerusalem. Daß palästinensische Attentäter auf dem Tempelberg zwei israelische Polizisten niederschossen, ist da kaum einen Monat her. Doch selbst wenn es der Propaganda-krieg hier hochgetragen hätte, tief ins Westjordanland hinein: es würde wohl eher gefeiert, als daß es jemanden stören würde. Selbst die hippe Backpacker-Bibel Lonely Planet beschreibt die Region um Nablus als „Hochburg militanter Palästinenser“. 

Märtyrerdenkmäler für Selbstmord-attentäter gehören in ganz Palästina zum Stadtbild, selbst im touristisch frequentierten Bethlehem sind die Tafeln vorzufinden. Doch in Nablus holte die radikal-islamische Hamas bei den letzten freien Wahlen von 2006 sogar die absolute Mehrheit. Im darauffolgenden Bürgerkrieg gelang es der „gemäßigten“ Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zwar, die Hamas in den Gaza-Streifen zu verjagen. Doch der Haß auf Israel ist in Nablus geblieben, ohne daß israelische Siedlungen eine unmittelbare räumliche Konkurrenzsituation schaffen würden, wie es in anderen Teilen des Westjordanlands der Fall ist.

Dabei wecken die Boutiquen von Tommy Hilfiger, Victoria’s Secret und Konsorten, die sich am Busbahnhof in einer westlich anmutenden Einkaufsmall sammeln, zunächst andere Erwartungen. Konterkariert wird Nablus’ Ruf zudem von einer Gastfreundschaft, die ihresgleichen sucht. 

Besuch von außerhalb scheint hier so selten zu sein, daß er sich herumspricht – und den ohnehin geschäftigen Basar in helle Aufregung versetzt. Zur Begrüßung werden Äpfel und Feigen verschenkt, purpurrot schillernd eingelegtes Gemüse zur Verköstigung angeboten. Aufsehen erregt auch die fremdländisch anmutende Spiegelreflexkamera: Doch statt sich für Schnappschüsse bezahlen zu lassen, wie es in vielen anderen Entwicklungsländern vorkommt, wird um die Fotos geradezu gebeten. Sie stellen eine willkommene Gelegenheit dar, ein möglichst freundliches Gesicht in die Welt zu senden. 

Daß die Häuserwand, vor der die Kinder in die Kamera strahlen, mit AK-47-Sturmgewehren bemalt ist, fällt in der spontanen Freude und den omnipräsenten „Welcome“-Rufen kaum auf. Woher die Gäste kommen, scheint zunächst keine große Rolle zu spielen. „You are Americans?“ fragen die beiden jungen Männer im Auto neugierig, kaum daß sie eine kostenlose Mitfahrt durchs Stadtzentrum angeboten haben.

Ausfuhr von Produkten gestaltet sich schwierig

Von Ressentiment gegen die Schutzmacht des verhaßten Nachbarn keine Spur. Doch die Antwort „Germany“ hört man hier trotzdem lieber, zaubert sie manchen Palästinensern doch ein geradezu freudiges Lächeln ins Gesicht. Während sich die beiden Jungen nur ein hämisches Grinsen zuwerfen, hatte sich der Verkäufer am Imbißstand klarer ausgedrückt – und den Gedanken an Merkels „Willkommenskultur“ als mögliche Ursache rasch und unsanft weggewischt. „Germany! Hitler“, war es ihm in schauriger Euphorie entfahren, während er Falafel in den Pitateig gesteckt hatte. 

Die alarmistisch roten Schilder, die israelischen Staatsbürgern den Zutritt nach Nablus explizit verbieten, können da kaum verwundern. Eingeführt wurde die diskriminierende Regelung, die an vielen Ortseingängen in Palästina verkündert steht, allerdings nicht von Abbas’ Autonomiebehörde, sondern von Israel selbst. So soll die Entführung eigener Staatsbürger verhindert werden, mit deren Geiselnahme in der Vergangenheit zahlreiche Gefangenenaustausche erzwungen wurden. Wollen jüdische Pilger des Grab Josefs besuchen, das an Nablus’ Stadtrand hinter dicken Mauern verborgen liegt, müssen sie daher von israelischen Streitkräften dorthin eskortiert werden. Seit sich palästinensische Attentäter hier vor einigen Jahren in die Luft sprengten, ist die Pilgerstätte Juden vorbehalten. Auch für Christen gibt es keine Ausnahme. Oder liegt es an der palästinensischen Mitfahrgelegenheit? 

Der israelische Soldat macht keine Anstalten, sich zu erklären. Dabei handelt es sich bei beiden Wachsoldaten vor der Grabanlage um arabischstämmige Israelis. Das scheint naheliegend, würden jüdische Armeeangehörige hier doch nicht nur als Provokation wahrgenommen werden, sondern zu zweit wohl auch gefährlich leben.

Dafür sorgen nicht zuletzt die Al-Aqsa-Brigaden, eine Art bewaffneter Arm der vermeintlich „moderaten“ Fatah. Auf „Al Aqsa“, wie der Tempelberg auf arabisch heißt, schielen die Brigaden nicht nur in Form ihres Namens. Weil sie in der zweiten Intifada für zahlreiche Selbstmordanschläge verantwortlich zeichneten, werden die Brigaden von der EU und dem US-Außenministerium als Terrororganisation gelistet. 

In Nablus dagegen duldet man sie nicht nur auf Märtyrerschildern: „No photo“, ist auf dem Basar plötzlich eine Grabesstimme zu hören. Vier vermummte und schwer bewaffnete Kämpfer haben es sich auf einem Mauervorsprung am Rande eines kleinen Platzes gemütlich gemacht, ohne daß die Marktbesucher daran einen erkennbaren Anstoß nehmen würden.

Ohnehin ist das quirlige Treiben ruhig geworden, die Abendsonne neigt sich dem Untergang zu. Einige Basarhändler versuchen noch lautstark, letzte Früchte an den Mann zu bringen. Die zahlreichen Seifenfabriken, für die Nablus überregional bekannt ist, haben bereits geschlossen. Eigentlich: Ahmed Albader, Besitzer der gleichnamigen Seifenfabrik, zeigt sich sofort bereit, auch nach Feierabend eine kleine Führung durch den Familienbesitz zu geben. „Ich freue mich immer, wenn die Leute von uns erfahren. Das ist die einzige wirkliche Industrie, die wir in Palästina haben“, sagt er, während er an einem langen Holzspachtel vorführt, wie man hier noch bis vor einigen Jahrzehnten Seife aus Oliven gestampft hat. „Heute geht das natürlich schneller mit den modernen Maschinen. Aber jetzt sind die Arbeiter schon alle zu Hause.“ 

Nablus’ Olivenölseifen, die von knapp zehn Familienunternehmen fabriziert werden, haben es mittlerweile bis nach Europa geschafft, erklärt Albader stolz. In den Niederlanden und im Palästina traditionell aufgeschlossenen Schweden habe er Agenten engagiert, um den Exportschlager aus heimischer Produktion zu vermarkten. Und dies trotz widriger Ausfuhrregeln: Einen Flughafen hat das Westjordanland nicht, ins Ausland dürfen die Palästinenser Israel und die Autonomiegebiete nur durch den chronisch überfüllten Allenby-Grenzübergang nach Jordanien verlassen. 

Der östliche Nachbar hat zahlreiche der offiziell staatenlosen Palästinenser mit Reisedokumenten ausgestattet, noch bevor ihnen 1995 ein De-facto-Reisepaß zugebilligt wurde. Innerhalb Israels und seiner besetzten Gebiete verfügen die Palästinenser nur über eine Art Identitätsausweis, der bei jeder Einreise über die Grenze überprüft werden will.

Hamed Ibrahim kann sich entspannt zurücklehnen. Das machen an diesem Abend im türkischen Hammam von Nablus zwar auch alle anderen Anwesenden. Doch als arabischer Israeli ist der Vertriebsvertreter der wohl einzige im dampfenden Badesaal, der die Grenze Tag für Tag problemlos übertreten darf. Ohne lange Warteschlangen am Checkpoint. Und ohne Angst, als Jude im Westjordanland entführt zu werden.