© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Abrechnung mit den Selbstzufriedenen
Gullivers Reisen: Vor 350 Jahren wurde der irische Patriot und Satiriker Jonathan Swift geboren
Heinz-Joachim Müllenbrock

Wer erinnert sich nicht daran, wie Gulliver auf seiner Reise ins Land der Liliputaner die Kriegsflotte ihres Feindes Blefuscu an einem Strick hinter sich herzieht und so unschädlich macht, oder wenn er, nach Brobdingnag, ins Land der Riesen,  verschlagen, bei einem Gastmahl über eine Brotkruste stolpert und der Länge nach auf sein Gesicht fällt? Solche Bilder sind ins Weltkulturerbe des Humors eingegangen. Doch Swifts Meisterwerk „Gulliver’s Travels“ (1726), als Kinder- und Jugendbuch weltberühmt geworden, ist trotz der köstlichen Situationskomik alles andere als ein bloßer Jux, sondern tief in die geistigen, politischen und sozialen Auseinandersetzungen der Zeit verstrickt. Auch in den Anfangsteilen wirken Scherz und Satire schon zusammen, wenn sich etwa in Liliput zwei religionspolitisch zerstrittene Gruppierungen wegen der richtigen Auslegung der Bibelstelle bekämpfen, daß alle wahren Gläubigen ihre Eier am geeigneten Ende aufschlagen sollen.

Satirische Galle blieb sein Markenzeichen

Daß der Erfinder des Gulliver mit seiner Reiseerzählung ernsthafte, wenn nicht gar spitzbübische Absichten verfolgte, darauf hätte bereits sein bisheriger Werdegang hindeuten müssen. Der 1667 als Kind englischer Eltern in Dublin geborene Jonathan Swift hatte nach dem Studium der Theologie am Trinity College ab 1689 ungefähr ein Jahrzehnt als Sekretär des schöngeistigen Diplomaten Sir William Temple verbracht. Der bald breitere Anerkennung suchende Swift trat 1704 mit zwei Werken an die Öffentlichkeit, die schon vom Titel her etwas von dem hintergründigen Humor des geborenen Satirikers ahnen lassen: „A Tale of a Tub“ und „The Battle of the Books“.

Der Titel von „A Tale of a Tub“ spielt auf die angebliche Gewohnheit von Seeleuten an, beim Auftauchen von Walen diesen eine Tonne zum Spielen hinzuwerfen, um sie damit vom Schiff abzulenken. Der Autor erklärt es als sein Ziel, die Intellektuellen davon abhalten zu wollen, Löcher in das Staatsschiff  zu bohren. In der gewisse Ähnlichkeiten mit Lessings Ringparabel in „Nathan der Weise“ aufweisenden Erzählung von den drei Brüdern, die am Christentum willkürliche Änderungen vornehmen, nimmt Swift als überzeugter Anglikaner insbesondere die ihm zeit seines Lebens verhaßten Puritaner aufs Korn, die als Äolisten oder Windanbeter verunglimpft werden. Die Blähungen, die sie abgehen lassen, dienen zur Veranschaulichung der den Puritanern vorgeworfenen intellektuellen Aufblähung. Kein Wunder, daß Königin Anne gewisse Stellen in „A Tale of a Tub“ als so anstößig empfunden haben soll, daß sie Swift die Ernennung zum Bischof verweigerte.

Satirische Galle sollte sein Markenzeichen bleiben. Zunächst war Swift bestrebt, als Anwalt der anglikanischen Kirche Profil zu gewinnen. In „An Argument against Abolishing Christianity“ (1708) legte er mit überlegenem Spott die Nachteile einer Abschaffung des Christentums dar.

Kurz darauf stand Swift, der bis dahin zwischen den politischen Parteien laviert hatte, auf dem Höhepunkt seines gesellschaftlichen Ansehens. Als rabiater Parteigänger der neuen konservativen Regierung unter Robert Harley (ab 1711 Earl of Oxford) wurde Swift zum Chefpropagandisten der Tories, bereitete in der offiziösen Zeitschrift The Examiner (1710/11) mit spitzer Feder die Abkehr von der whiggistischen Kriegspolitik vor und leitete die öffentliche Demontage des Herzogs von Marlborough ein. Den entscheidenden Schlag versetzte er dem Kriegsheros der Whigs mit seinem Pamphlet „The Conduct of the Allies“ (1711), der vielleicht berühmtesten Flugschrift in der Geschichte Englands, die die öffentliche Meinung auf den Frieden von Utrecht (1713) einstimmte.

Der Tod von Königin Anne am 1. August 1714 und die Thronbesteigung der Hannoveraner bereiteten dem Glück Swifts ein jähes Ende. Der 1713 zum Dekan der St. Patricks-Kathedrale in Dublin ernannte Swift mußte sich in das ungeliebte Land seiner Geburt zurückziehen – eine biographische Wende mit literarischen Folgen.

Die persönliche Verbitterung über die einschneidende Wandlung seiner Lebensumstände setzte er jetzt in einer Art psychischer Revolte in die trotzige Bloßlegung der Misere Irlands um. Erst jetzt wurde er zum irischen Patrioten; als „Dean of St. Patrick’s“ ist er in die irische Geschichte eingegangen.

Zum veritablen Nationalhelden avancierte Swift in den berühmten „Drapier’s Letters“ (1724). Ein obskurer, habgieriger Geschäftemacher namens William Wood hatte von der englischen Regierung das Patent dafür erhalten, eine große Anzahl von neuen Kupfermünzen in Irland einzuführen, die sich von minderwertigem Metall erwiesen. Diese flagrante Benachteiligung Irlands nahm Swift zum Anlaß, in die Maske eines einfachen Tuchhändlers zu schlüpfen und in einer brillanten Kampagne den Volkszorn gegen Wood und die  beabsichtigte Maßnahme zu entfachen, die zurückgenommen werden mußte. 

In „Gulliver’s Travels“ gilt Swifts Invektive dem ganzen Menschengeschlecht. Die vier Reisen Gullivers laufen auf eine immer schmerzlichere Desillusionierung des zunächst noch selbstsicheren Lesers hinaus, der am Ende vor den Trümmern seines englischen bzw. europäischen Weltbildes steht. Hatten die ersten beiden Bücher die Relativität menschlicher Maßstäbe aufgezeigt und die politisch-gesellschaftlichen Mißstände in England spöttisch beleuchtet, so ist das dritte Buch darauf angelegt, den Intellekt des Menschen in Mißkredit zu bringen. In der Beschreibung der auf der fliegenden Insel Laputa gelegenen Akademie von Lagado veräppelt Swift aus der einseitigen Warte des klassisch Gebildeten Verstiegenheiten des Wissenschaftsbetriebs. 

Dieser dritte Teil endet mit der bestürzenden, gerade angesichts der heutigen Lebensumstände aktuellen Episode der Struldbruggs in Luggnagg. Diese von Gulliver zunächst beneideten, aber ein apathisches Dasein führenden Unsterblichen müssen die Last des Alters ohne Aussicht auf den Trost des Todes ertragen – Swifts Warnung vor der Hybris des existentielle Unverrückbarkeiten verleugnenden Menschen.

Den End- und Höhepunkt bildet das vierte Buch, Swifts Paukenschlag gegen den selbstgefälligen Optimismus des Aufklärungszeitalters. In diesem Teil lernt Gulliver das Land der Houyhnhnms kennen, einen Staat vernunftbegabter Pferde, die nach rein rationalen Prinzipien friedlich zusammenleben. Sie herrschen über die abscheuliche Rasse der Yahoos, menschenähnliche Tiere, die bösartig, tückisch, feige, aggressiv und ohne Vernunft sind.

Da Gulliver den Yahoos, für Literaten wie Samuel Richardson, Dr. Johnson und Thackeray die Ausgeburt eines vermeintlich pervertierten Geistes, äußerlich gleicht, wird er von den Houyhnhnms als Yahoo eingestuft. Dem äußeren Anschein folgt die innere Probe. Nachdem Gulliver seinem Herrn und Gastgeber stolz von den Errungenschaften seiner Heimat berichtet hat, fällt sein Gesprächspartner das vernichtende Urteil, daß den Menschen nur ein geringer Anteil an Vernunft zugefallen sei, vom dem sie indes keinen anderen Gebrauch machten, als mit seiner Hilfe ihre natürlichen Verderbtheiten noch zu verschlimmern und sich neue zuzulegen, die ihnen die Natur nicht mitgegeben habe. Das Alleinstellungsmerkmal des Homo sapiens als Selbsttäuschung entlarvt, der Mensch als vernunftwidriges Wesen exponiert! 

Er mißbilligte den Machbarkeitswahn

Swifts Generalabrechnung mit der von dem tristen empirischen Befund nicht gedeckten Selbstzufriedenheit seiner aufgeklärten Zeitgenossen hat an Aktualität bis heute nichts eingebüßt. Die Reichweite seiner Kritik zeigt sich auch in der modern anmutenden Mißbilligung des Machbarkeitswahns, der Einsicht, daß bloße zweckrationale Utilität  gegen den Menschen selbst gerichtet sein kann. Mittels der edlen Pferde, die eine Folie abgeben, auf der sich jegliche Art von Unvernunft um so schärfer abhebt, hat Swift den Menschen an seine eigentliche  Bestimmung erinnert.

„Gulliver’s Travels“ ist das zentrale Dokument Swifts als unbequemer und scharfzüngiger Antipode der Aufklärung. Sein satirisches Ingenium hat er erst in „A Modest Proposal“ (1729) bis ins letzte ausgereizt, vielleicht sogar überreizt. In dieser Schrift unterbreitet ein gemeinnütziger Projektemacher als Allheilmittel für die irische Misere in pseudo-merkantilistischer Manier den ungeheuerlichen  Vorschlag, daß die Armen ihre einjährigen Kinder verkaufen, damit sie geschlachtet und als besondere Delikatesse der reichen anglo-irischen Oberschicht zum Verzehr serviert werden können.

Das satirische Paradoxon besteht darin, daß der Modest Proposer, obwohl in gewisser Weise selber moralisch abgestumpft, das moralische Sensorium der Leser aktivieren soll. Diese sollen merken, zu welch ungeheuren Gedankengängen sich jemand versteigen kann, der die irischen Verhältnisse in ihrer ganzen ungeschminkten, hoffnungslosen Realität wahrnimmt. Die allgegenwärtige Metapher des Auffressens bietet die angemessene Bildlichkeit für die Anprangerung der wirtschaftlichen Unterdrückung Irlands, das von England gewissermaßen auf- oder kahlgefressen wird – Swifts bitterböses, zynisches Fazit als irischer Patriot.

Als Schocktherapeut, der mit seinem literarischen Seziermesser tief in die Schwächen des Menschen und seiner Welt schneidet, hat sich dieser ätzende Satiriker in die Weltliteratur eingeschrieben. In seiner rückhaltlosen Wahrheitsliebe war Swift ein großer Einsamer.






Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Jane Austen (JF  29/17).