© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/17 / 01. Dezember 2017

Nun also doch wieder
Kurswechsel: Das Staatsoberhaupt hält nichts von Neuwahlen / Die SPD fügt sich und wird erneut mit der Union verhandeln
Jörg Kürschner

Es ist noch kein Jahr her, da war Martin Schulz als Hoffnungsträger von der europäischen auf die nationale Bühne gewechselt, um sich in der deutschen Innenpolitik neu zu orientieren. 

Doch es kam anders. Schmerzhafte Erfahrungen hat der SPD-Chef seit der demütigenden Niederlage bei der Bundestagswahl machen müssen. „Mit dem heutigen Abend endet die Zusammenarbeit mit der CDU/CSU“, hatte er am 24. September voreilig verkündet. Und nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen vor knapp zwei Wochen hatte er sich zunächst seinen Kurs einer kategorischen Absage einer Großen Koalition durch einen Vorstandsbeschluß absegnen lassen, trotz erheblicher Bedenken in der Parteispitze. 

Keine 24 Stunden später mußte er zurückrudern. Er hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unterschätzt, den Sozialdemokraten mit ruhendem Parteibuch, der seinen verfassungsrechtlichen Spielraum auszuschöpfen gedachte. Er legte Schulz in einem Einzelgespräch die Bildung einer stabilen Bundesregierung nahe, also die Fortsetzung der Großen Koalition. Neuwahlen? Nein danke! 

Es folgte ein Sitzungsmarathon im Willy-Brandt-Haus mit kontroversen Debatten über eine GroKo, eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen. Am Ende stand eine Kehrtwende des gescheiterten Kanzlerkandidaten. „Ja, die SPD-Führung ist sich einig, daß ich einer Einladung des Bundespräsidenten zu Gesprächen auch mit anderen Parteivorsitzenden selbstverständlich folgen werde“. Kleinlaut bekräftigte er, es gebe keinen Automatismus in irgendeine Richtung. Würden die Gespräche zu einer Regierungsbeteiligung der SPD führen, „werden die Mitglieder unserer Partei darüber abstimmen“. Hilflos wirkte er am vergangenen Wochenende auf dem Juso-Kongreß. „Ich streb’ gar nix an“. Gestern stand der schwere Gang ins Schloß Bellevue auf dem Terminkalender des Parteichefs, der in Steinmeiers Amtssitz auf die beiden Unions-Vorsitzenden Angela Merkel und Horst Seehofer treffen sollte. Einziger Tagesordnungspunkt: die Bildung einer stabilen Bundesregierung.

Dem Treffen vorausgegangen war ein Potpourri von Lockungen, Kraftmeierei und Vorwürfen. Während die geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel verbindliche Worte an die SPD richtete und „ernsthafte, engagierte und redliche“ Gespräche ankündigte, stimmte der Vertreter des CSU-geführten Landwirtschaftsministeriums in Brüssel einer Verlängerung der Zulassung des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat zu. 

„Das ist ein schwerer Vertrauensbruch in der geschäftsführenden Bundesregierung“, empörte sich SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles. Bei einem Dissens der Koalitionspartner hätte sich die Bundesregierung enthalten müssen. Die Sozialdemokraten lehnen eine Zulassung des Mittels wegen möglicher Krebsrisiken ab. Die Grünen forderten gar die Entlassung von Landwirtschaftsminister Christian Schmidt, falls er gegen eine Weisung der Kanzlerin gestimmt habe. Der FDP kam die Glyphosat-Aufregung gerade recht, um das von ihr herbeigeführte Jamaika-Aus in den Hintergrund treten zu lassen. Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann stellte flugs die Koalitionsfähigkeit von Union und SPD in Frage.  

Zuvor versuchten mehrere Unionspolitiker die Öffentlichkeit mit Binsenweisheiten darauf vorzubereiten, daß eine GroKo noch auf sich warten lassen würde. „Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit“, meinte CDU-Bundesvize Julia Klöckner. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel zeigte sich entsetzt über die Hängepartie. Es sei unverantwortlich, die Regierungsbildung auf das nächste Frühjahr zu verschieben. „Erst fährt Merkel Jamaika gegen die Wand, dann fliegt Schulz mit seiner Neuwahl-Ansage aus der Kurve.“ Mehr als zwei Monate nach der Bundestagswahl brauche Deutschland rasch eine handlungsfähige Regierung, mahnte Weidel im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. So müsse im März die Aussetzung des Familiennachzugs verlängert werden. „Wenn 2018 mehr als 300.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen, wäre das der Sargnagel für unser Sozialsystem.“

Noch nie so „machtgeil     und unpatriotisch“

Die ungewisse Dauer möglicher Sondierungs-, Koalitionsgespräche, Mitgliederentscheide und Parteitagsabstimmungen hat längst ursprüngliche Zeitpläne durcheinandergebracht. Der für Dezember geplante CDU-Parteitag ist verschoben worden, ohne neuen Termin. Anders als 2013 kann Merkel nicht mehr vor Weihnachten im Bundestag vereidigt werden. Dementsprechend ist die Nervosität in den Parteien gestiegen. Nicht nur bei der SPD, die auf dem Parteitag am Zweiten Advent Martin Schulz trotz seiner Kehrtwenden als Vorsitzenden bestätigen will. Auf dem Parteitag ihres CDU-Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern sagte ein Delegierter Merkel direkt ins Gesicht: Noch nie sei ein Kanzler so „machtgeil und unpatriotisch“ gewesen. Er erntete Unmut und Buh-Rufe.  Die Junge Union Düsseldorf forderte den „sofortigen Rücktritt“ der CDU-Vorsitzenden. Zudem solle die Bundeskanzlerin im Falle von Neuwahlen nicht mehr als Spitzenkandidatin antreten, sagte der JU-Kreisvorsitzende Ulrich Wensel. Mit dem Beschluß wolle man dem Niedergang der stolzen Volkspartei CDU entgegenwirken. 

Und Horst Seehofer, der dritte Gesprächsteilnehmer bei Steinmeier, hangelt sich in Bayern von Galgenfrist zu Galgenfrist. Auf dem bereits verschobenen Parteitag am 15. Dezember soll für den angeschlagenen CSU-Chef und bayerischen Ministerpräsidenten eine gesichtswahrende Lösung gefunden werden. In Berliner Unionskreisen wird schon über einen Bundesminister Seehofer im Kabinett Merkel IV gesprochen.