© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/17 / 01. Dezember 2017

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Analoge Aktion
Paul Rosen

Berlin rühmt sich seiner digitalen Wirtschaft. Start-ups sprießen hier wie Unkräuter in alten Industriegebäuden. Wenn eines Tages Siemens die Turbinenproduktion einstellt, werden in den Werkshallen vielleicht Apps entwickelt, mit denen zum Beispiel vegane Schuhe bestellt werden können. Wer in der Hauptstadt seine digitale Verbundenheit unter Beweis stellen will, schlürft den Latte macchiato im Café „Oberholz“ am Rosenthaler Platz oder im „Shakespeare & Sons“ in der Warschauer Straße, einem Geheimtip. Dort sind alle online.  

Es gibt aber einen Ort in Berlin, wo die analoge Welt lebt wie die letzten Saurier im Film „Jurassic Park“: den Deutschen Bundestag. Dort stehen in jedem Büro noch Faxgeräte, die das Rückgrat der internen Kommunikation bilden – jedenfalls noch so lange, wie es Ersatzteile dafür gibt. Junge Praktikanten staunen über die alten Blechkisten, weil sie so etwas noch nie gesehen haben. 

Flächendeckendes WLAN sucht man im Bundestag vergeblich. Ein solches existiert aber zum Beispiel im Europasaal über der Kantine im Paul-Löbe-Haus. Dort tagen oft ausländische Delegationen, denen der Bundestag damit einen Schein von Modernität vorspiegelt. Ist der Besuch weg, wird das WLAN wieder abgeschaltet.

Denn in Wirklichkeit tickt das Hohe Haus analog. Wer sich darüber wundert, daß es in Deutschland so wenig offene Funknetzwerke gibt, findet die Erklärung im Bundestag, wo freies Internet als Hochrisiko empfunden wird und wo auf den Rechnern noch das gute alte Windows 2000 läuft. In diesem Umfeld können auch Verbotsgesetze wie das Netzwerkdurchsetzungsgesetz gedeihen. 

Der Bundestag ist nicht auf Facebook zu finden, und wenn Abgeordnete twittern, dann machen sie das über einen privat angelegten Account. Selbst das geht dem neuen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) zu weit. „Den Verhandlungen des Deutschen Bundestages unangemessen und daher unerwünscht ist die Nutzung von Geräten zum Fotografieren, Twittern oder Verbreiten von Nachrichten über den Plenarverlauf“, ließ Schäuble die Abgeordneten in einem Rundschreiben wissen, von dem Spötter meinten, es könnte auf einer mechanischen Schreibmaschine entstanden sein. Die Realität in den Sitzungen des Bundestages und der Ausschüsse ist längst eine andere. Die Abgeordneten twittern, was das Zeug hält, und schieben Fotos sogar aus nichtöffentlichen Sitzungen über Facebook ins Netz. Wenn der Bundestags-Pressedienst herauskommt, sind die Ausschußbeschlüsse bereits detailliert von den Abgeordneten selbst verbreitet worden. 

Schäubles Analog-Aktion stieß prompt auf Widerspruch: „Soziale Medien, richtig genutzt, sind das digitale Pendant zur Glaskuppel unseres Reichstags als Zeichen und Mittel der Transparenz“, schrieb die CSU-Abgeordnete Dorothee Bär an Schäuble. Der Präsident selbst ist moderner, als es scheint. Es gibt ein Foto, das Schäuble auf der Regierungsbank mit iPad zeigt – allerdings twittert er nicht, sondern spielt Sudoku.