© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/17 / 01. Dezember 2017

Die Übermacht der Damen
Glockenklare Präzision: Bellinis „Norma“ am Nationaltheater Mannheim überzeugt vor allem stimmlich
Markus Brandstetter

Der Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser hat 1951 in seiner einst vielgelesenen „Musikgeschichte in 100 Lebensbildern“ geschrieben: „In den Spielplänen nördlich der Alpen ist heute der gesamte Bellini tot.“ Diese Feststellung war vor 70 Jahren richtig, heute aber ist sie falsch. 

Denn heute werden Bellinis wichtigste Opern: „La Sonnambula“, „Beatrice di Tenda“, „I Puritani“ und die sie alle überstrahlende „Norma“ auf der ganzen Welt wieder aufgeführt. In der Spielsaison 2015/16 lag Vincenzo Bellini mit 1.188 Aufführungen an achtzehnter Stelle der am meisten aufgeführten Opernkomponisten der Welt; einer Rangliste, die Jahr für Jahr von Verdi, Mozart, Puccini, Rossini und Wagner angeführt wird. Fast fünfhundertmal wurde „Norma“ in der vergangenen Saison weltweit gespielt – öfter als „Lohengrin“, „Der Freischütz“ oder „Die verkaufte Braut“. Und öfter als alle Opern von Alban Berg, Harrison Birtwistle und Wolfgang Rihm zusammen.

Das Opernpublikum mag, das haben die vergangenen fünfzig Jahre gezeigt, Opern, die eine (zumindest einigermaßen) nachvollziehbare Handlung, große Melodien, mitreißende Arien und sorgfältig komponierte Chor- und Ensembleszenen haben. Und vor allem mag das Publikum tonale Musik, die auf dem Fundament der Hauptkadenz und ihrer drei Vertreter (oder Parallelen) aufgebaut ist – auch wenn dieses Schema manchmal, wie im „Tristan“ und Straussens „Salome“ oder „Elektra“, bis an seine Grenzen ausgereizt wird.

Was das Publikum nicht mag, sind isolierte Motivfetzen, minimalistische Themensplitter, schrille Dissonanzen und knirschende Akkordcluster, am besten stundenlang, was einer der Gründe dafür sein muß, warum die Opern von Bernd Alois Zimmermann, Aribert Reimann und Olga Neuwirth halt gar so selten gespielt werden.

„Norma“ ist der Prototyp der Bel-Canto-Oper schlechthin, geschrieben für einen dramatischen Sopran und für diesen ungeheuer anstrengend, weil die Titelfigur fast drei Stunden lang pausenlos singen muß. Das Verdienst, „Norma“ nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Versenkung geholt zu haben, gebührt Maria Callas. Für sie war diese Rolle einer gallischen Druiden-Priesterin, die gleichermaßen leidenschaftlich, verliebt und zärtlich wie rachsüchtig, grausam und böse ist, die Rolle ihres Lebens. Die Callas hat sie fast neunzigmal gesungen, öfter als jede andere Partie.

Die Hauptrolle verlangt einer Sängerin alles ab

Die Rolle der Norma ist seit jeher von der Aura des Schwierigen, Unmöglichen, ja Heiligen umwabert, weshalb es wenig gute Aufführungen der Oper und noch weniger befriedigende Schallplattenaufnahmen davon gibt. Deshalb erfreut es ganz besonders, daß das Nationaltheater Mannheim in der laufenden Saison eine Neuinszenierung von „Norma“ zeigt, die stimmlich und musikalisch höchstes Niveau bietet.

Von einer Sopranistin verlangt die Rolle der Norma alles ab, was es in der Welt einer Primadonna überhaupt nur gibt: enorme stimmliche Kraft, ein Höchstmaß an dramatischem Ausdruck, eine außergewöhnliche Bühnenpräsenz, und das alles gekrönt von einer fehlerlosen Belcanto-Technik. Das ist mehr, als die meisten Sängerinnen besitzen, aber Miriam Clark in Markus Bothes Mannheimer Inszenierung verfügt über all das. Ja, manchmal übertreibt sie es beim Schauspielern ein bißchen: runzelt die Stirn zu oft, blickt zu lange zu finster, schreit etwas zu schrill, läßt ihr erkleckliches mimisches Talent also ganz schön heraushängen – aber wer sagt denn, daß das falsch ist? Diese Oper mit ihrer archaisch-vorchristlichen Handlung, die aus dem unlösbaren und in der italienischen Oper somit tödlichen Konflikt zwischen der Liebe Normas für einen Mann und derjenigen für ihr Vaterland besteht, läßt einer Sängerin im Endeffekt gar keine andere Wahl. Hier gibt es nur alles oder nichts. Und Miriam Clark hat sich für alles entschieden.

Unvergleichlich mit welcher Kraft und Festigkeit der Stimme diese Sängerin Arie um Arie, Cavatine um Cavatine, Szene um Szene, ohne je zu ermüden und im Ausdruck abzufallen, durchsingt. Schon „Casta Diva“, die berühmte Auftrittscavatine der Norma, gelingt vortrefflich. Ihr ganzes Können jedoch zeigt Miriam Clark im sängerisch heiklen Duett „Mira Norma“ zusammen mit Julia Faylenbogen, die in Mannheim Normas Gegenspielerin Adalgisa singt. Mit welch glockenklarer Präzision beide Sängerinnen im „Un poco meno“ die Kadenzen aus parallelen Terzen bewältigen – das muß man gehört haben. An dieser Stelle erweist sich wieder einmal die Wahrheit einer alten Opernweisheit, die besagt: Eine Primadonna kann nur so gut sein wie ihre Gegenspielerin. Die ist in Mannheim mit Julia Faylenbogens etwas hell timbriertem Mezzo, der aber jederzeit hochdramatischer Passagen fähig ist, hervorragend besetzt.

Leider kann da Andreas Hermann, der den römischen Prokonsul Pollione singt, nicht ganz mithalten – was allerdings nicht seine Schuld ist, da er hier einfach falsch besetzt wurde. Hermann ist ein lyrischer Tenor, der zum Beispiel den Nemorino in „Der Liebestrank“, den Tamino in der „Zauberflöte“ oder den Alfredo in „La Traviata“ herausragend singen kann, aber er ist kein Spinto, kein italienischer Heldentenor, der mit einer tragenden Stimme Rollen wie den Radames in „Aida“, Cavaradossi in „Tosca“ oder eben den Pollione in „Norma“ überzeugend ausfüllen könnte. Mit seiner schlanken und agilen Stimme, die zu klaren Höhen, aber weniger zu tenoralem Strahlglanz fähig ist, steht der Sänger der Übermacht der beiden Damen, die im zweiten Akt praktisch pausenlos auf ihn einsingen, doch etwas hilflos gegenüber.

Bühnenbild erinnert an Nordirland-Konflikt

Wo Licht ist, gibt es immer auch Schatten, und das ist auch bei dieser Mannheimer Norma nicht anders. So gut Inszenierung, Sänger und das Orchester unter der überzeugenden Leitung von Benjamin Reiners sind, so mies sind Bühnenbild und Kostüme. Der Bühnenbildner hat den Konflikt Gallier gegen Römer in das moderne Nordirland transportiert, in dem die Iren die Unterdrückten und die Briten die Unterdrücker darstellen. Damit das auch jeder versteht, hat er mitten auf die Bühne eine gallisch-irische Eiche gepflanzt und diese dann mit einer haushohen Ringmauer aus Sandsäcken umgeben, was wohl an Belfast erinnern soll, beim Zuschauer aber nur Klaustrophobie hervorruft.

Den grandiosen Gesamteindruck des Abends kann das aber nicht trüben – Musik und Gesang sind einfach viel zu berückend. 

Die nächsten„Norma“-Vorstellungen an der Oper Mannheim finden statt am 2. und 29. Dezember 2017 sowie am 7. und 12. Januar 2018. Kartentelefon: 06 21 / 16 80 150

 www.nationaltheater-mannheim.de