© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/17 / 08. Dezember 2017

„Die Komplizen des Neoliberalismus“
Mit seiner Krisen-Analyse des politischen Systems des Westens – Stichwort Postdemokratie – wurde er international bekannt. Inzwischen widmet sich Colin Crouch dem Abstieg der Sozialdemokratie in Europa: Was sind die Ursachen? Was ist die Lösung?
Moritz Schwarz

Herr Professor Crouch, in vielen EU-Ländern stecken linke wie rechte Volksparteien in einer Krise. Aus den gleichen oder aus unterschiedlichen Gründen?

Colin Crouch: Beide ruhten sie einmal auf traditionellen gesellschaftlichen Verbindlichkeiten: die großen politischen Identifikationsfaktoren waren lange soziale Klasse und Religion. Doch haben diese stark an Bedeutung verloren. Das trifft sozialdemokratische Mitte-Links-Parteien wie christdemokratische Mitte-Rechts-Parteien gleichermaßen.

Warum aber schwächeln Sozialdemokraten mitunter stärker als Christdemokraten? 

Crouch: Weil weitere Faktoren zu einer Asymmetrie zuungunsten der Sozialdemokratie führen. So sammeln sich in rechten Volksparteien eher Menschen, die sich als erfolgreich betrachten, in linken eher solche, die sich benachteiligt fühlen. Das Selbstempfinden der Mitte-Rechts-Parteien stellt also etwa einen Vorteil dar, der dazu beiträgt, daß diese mitunter langsamer erodieren. Ein weiterer asymmetrischer Faktor ist, daß die „neue“ politische Hauptidentifikationsgröße, die Klasse und Religion weitgehend ersetzt hat, die Nation ist. Auch das ist für linke Volksparteien ein größeres Problem als für rechte Volksparteien. Obwohl auch diese, spätestens seit den Erfolgen der rechtspopulistisch-fremdenfeindlichen Parteien, dadurch ein wachsendes Problem haben. 

Wenn die Nation der politische Haupt­identifikationsfaktor ist, warum positionieren sich sozialdemokratische Parteien dann vielfach gegen diesen? Stellen sie sich damit nicht quasi „gegen die Geschichte“? 

Crouch: Das stimmt. Die Nation sollte gewiß für sozialdemokratische Parteien wichtig sein. Sie muß aber für sie unzureichend bleiben. 

Warum? 

Crouch: Weil es im Zeitalter der Globalisierung einer Demokratie bedarf, die über den Nationalstaat hinausreicht. Bleibt sie dagegen national strukturiert, während die Wirtschaft international wird, wird die Demokratie der Herausforderung durch diese unterliegen. Doch für dieses Problem – nationale Identität als Hauptidentifikationsfaktor einerseits, Notwendigkeit einer internationalen Demokratie andererseits – gibt es eine Lösung. 

Seitdem Sie 2004 – in Deutschland 2008 – große Aufmerksamkeit erregten, indem Sie mit Ihrem gleichlautenden Buch den Begriff „Postdemokratie“ in die internationale Debatte eingeführt haben, gelten Sie als Fachmann für solche Fragen. Was schlagen Sie vor? 

Crouch: Die Lösung ruht auf zwei Säulen: Erstens gibt es bereits viele Europäer, die sich als moderne Internationale mit einer liberal-kosmopolitischen Einstellung empfinden. Vor allem findet sich diese Haltung unter den Jungen, so daß sie in Zukunft zunehmen wird, und in den Städten, die die Zentren der gesellschaftlichen Entwicklung sind. Zweitens gibt es fast überall in Europa ausgeprägten Lokalismus oder Regionalismus – den Stolz auf Vaterstadt oder Heimatregion. Jedoch sind diese Regionalismen heute nicht mehr abschottend – im Gegenteil, sie sind auf Europa, zur Welt hin orientiert. Es gibt also auch Faktoren, die den linken Volksparteien aus der Krise helfen können. 

Folglich sollten linke Volksparteien den Kampf gegen die Nation aufnehmen?   

Crouch: Nein, ganz sicher nicht. Denn die Frage politischer Identität ist komplex. Stellen Sie sich eine russische Matroschka-Figur vor, in der, wenn Sie die äußere Figur abnehmen, immer eine weitere zum Vorschein kommt. So verhält es sich auch mit Identität. Lokalität, Regionalität, Nationalität und europäische Ebene – alle spielen eine Rolle, und es wäre ein Fehler, klammerten die Mitte-Links-Parteien die Nationalität aus. Es wäre ebenso ein Fehler, wie wenn sie der Versuchung erlägen, sie – wie die Nationalisten – als die einzig entscheidende Ebene zu begreifen. Um das verständlich zu machen: Ich bin Brite und Europäer. Unser Außenminister Boris Johnson aber meint, eine solche Haltung sei furchtbar und eine Gefahr für die britische Identität. Das aber ist Unsinn, und zudem ist diese Einstellung die politische Gefahr. Allerdings erkenne ich an, daß die Nationalität politisch immerhin die bestimmende Ebene ist. Und Sozialdemokraten wären gut beraten, diese Tatsache nicht zu verleugnen. Der Unterschied zu den Nationalisten ist, diese Tatsache schlicht als Realität anzuerkennen, sie jedoch nicht, wie diese es tun, als Ideologie absolut zu setzen.

Ihr Kollege David Goodhart, ein sozialdemokratisch orientierter, britischer Intellektueller, rät der Linken allerdings dazu, die politische Dominanz der nationalen Identität nicht nur pragmatisch anzuerkennen, sondern zu verinnerlichen.  

Crouch: Ja, aber das Problem ist, daß Goodharts Entwicklung immer fragwürdiger wird. Jüngst hat er in Zusammenhang mit dem Problem des Sexismus einen Artikel geschrieben, nach dem Sexismus eher eine ideologische Behauptung sei, als ein reales Problem. Leider ist David offensichtlich auf dem Weg in den Konservatismus. 

Sie nehmen also seine Analysen und Empfehlungen für die Linke, die in Großbritannien in der Vergangenheit für Aufmerksamkeit gesorgt haben, nicht ernst? 

Crouch: Inzwischen besteht er darauf, daß nur noch die Nation zählt. Das aber ist Unsinn, denn die Globalisierung schreitet voran und läßt sich auch von David Goodhart nicht zurückdrehen. 

Goodhart bietet allerdings eine interessante Analyse: Er betrachtet genau jene soziale Klasse von Kosmopoliten, die Sie als Kraft zur Rettung der Sozialdemokratie sehen, als deren größtes Problem. Denn laut Goodhart ist der entscheidende Faktor für den beschleunigten Niedergang der Mitte-Links-Parteien die Spaltung zwischen dieser und der traditionellen heimatlich-national orientierten Arbeiterklasse. 

Crouch: Nun, richtig ist, daß die Sozialdemokratie traditionell zwei Gruppen von Wählern hat: die klassischen Arbeiter – das sind vor allem Männer – und die kleinen Angestellten, zum Beispiel des öffentlichen Dienstes – hier finden sich viele Frauen. Richtig ist auch, daß es immer schwieriger geworden ist, diese Gruppen zusammenzuhalten. 

Weil, so Goodhart, die Interessen der gebildeten, mobilen Kosmopoliten, die keinen Bezug zur traditionellen Heimat hätten, und der lokal verwurzelten Arbeiter sowohl sozial wie kulturell auseinanderklafften. Kulturell insofern, als sich die Kosmopoliten über Bildung, Beruf, Erfolg definierten, Arbeiter – in Ermangelung dessen – über Heimat und Nation. 

Crouch: Das ist ja nicht falsch, aber zum einen kann die Sozialdemokratie nicht allein auf die alte Arbeiterklasse setzen, denn sie ist stark geschrumpft und schwindet weiter. Zum anderen ist ihre abnehmende Bedeutung auch ein Problem für die Arbeiterklasse selbst. Denn hält sie es statt mit der Sozialdemokratie mit den Rechtspopulisten, muß sie sich den Eliten dort, die vielfach andere Interessen haben als sie, eben wegen ihrer Schwäche unterordnen. Nein, die Antwort der Sozialdemokratie auf den von Goodhart beschriebenen Konflikt muß sein, Arbeiter und Kosmopoliten wieder zusammenzubringen.

Aber wie, wenn ihre Interessen so unterschiedlich sind? Die EU etwa ist eine Bürokratie, die Nicht-Akademikern unzugänglich ist. Umweltschutz muß man sich leisten können. Und Einwanderung und Multikulturalismus bedeuten für Arbeiter soziale Konkurrenz, Verdrängung und, wie wir sehen müssen, teilweise Gewalt. 

Crouch: Es stimmt, die EU hat vor etwa 15 Jahren eine neoliberale Richtung eingeschlagen. Aufgabe und Chance der Sozialdemokratie ist es, im Interesse der sozial Schwachen auf diese einzuwirken und dafür zu sorgen, daß wie zu Zeiten Jacques Delors von Brüssel auch wieder eine Sozialpolitik ausgeht. Umweltschutz: Wer bitte lebt denn in den schlechten Wohngegenden, die in der Regel zuerst von Umweltverschmutzung betroffen sind? Eben, die kleinen Leute. Aufgabe und Chance der Sozialdemokratie ist es, ihnen das klarzumachen und sie so für diese wichtige Aufgabe zu gewinnen, sowie Ökologie sozialverträglich zu gestalten. Und zu Einwanderung und Multikulturalismus: Wir sehen, daß fremdenfeindliche Parteien in den Städten und Quartieren am schwächsten sind, die am meisten multikulturell sind. Aufgabe der Sozialdemokratie ist es also, Einwanderung so zu gestalten, daß die Menschen sie auch annehmen. Deshalb ist es gut, wenn Zuwanderer ganz allmählich und nicht plötzlich kommen. 

Aber spricht die Realität nicht dagegen? Denn wäre es so wie Sie sagen, warum hat die Sozialdemokratie dann überhaupt Probleme?         

Crouch: Weil sie sich in den achtziger und neunziger Jahren vielfach zum Komplizen des Neoliberalismus gemacht hat.

Inwiefern? 

Crouch: Damals war der Neoliberalismus neu und populär. Er versprach die Lösung unserer wirtschaftlichen Probleme. Dazu kam, daß die neoliberalen USA damals viel stärker zu sein schienen, als es ein sozialdemokratisches Land je hätte sein können. Dem konnte sich die Sozialdemokratie oft nicht entziehen. Viele sprangen auf den Zug auf.

Hat sie also vor der Herausforderung versagt? 

Crouch: Wer die Zeit damals kennt, versteht, daß selbst sozialdemokratische Politiker es für unmöglich hielten, sich außerhalb dieses Trends zu stellen. Neoliberal war ja noch nicht wie heute fast ein Schimpfwort – heute verbitten es sich selbst Neoliberale, neoliberal genannt zu werden. Wie auch immer – als der Neoliberalismus 2008 mit gewaltigem Krach vor die Wand fuhr und das Erwachen ernüchternd war, wäre dies eigentlich die Stunde der Sozialdemokratie gewesen. Doch eben in diesem Moment, der der ihre hätte sein können, hatte sie ob ihrer Komplizenschaft das Vertrauen der Menschen vielfach verloren. Und nicht nur das – das entstandene Vakuum erlaubte es auch noch den fremdenfeindlichen Parteien, in die linke Wählerschaft vorzustoßen. 

Es heißt, diese täuschten und mißbrauchten soziale Themen, um die Wähler der Linken zu ködern. Aber ist das wirklich wahr? Vielleicht vertreten sie ja tatsächlich eher deren unmittelbare Interessen als die Sozialdemokratie? 

Crouch: Es gibt in der Tat Angehörige der schwächeren Schichten, die das so sehen. Traditionell hat es „immer“ auch einen Teil der Arbeiterklasse gegeben, der mit dem britischen Nationalismus und Imperialismus sympathisiert hat, weil man so über anderen Nationen, irischen Katholiken und Kolonialvölkern rangierte. Doch ein Zurück zu einer national orientierten Wirtschaft und zum Protektionismus wird in der Ära der Globalisierung zwangsläufig scheitern. Das hat schon in den siebziger Jahren, als noch eine starke nationale Wirtschaft Leitbild der Labour-Partei war, nicht funktioniert – und heute funktioniert es erst recht nicht. Diese traditionelle linke Haltung Labours ist übrigens auch der Grund, warum die Partei der EU lange ablehnend gegenüberstand. Und während die SPD sich schon 1959 im Godesberger Programm der Marktwirtschaft öffnete, hat sich Labour erst unter Tony Blair, Premierminister von 1997 bis 2007, zum Markt bekannt. 

Das heißt, der heutige Labour-Chef Jeremy Corbyn, ein Traditionslinker, der die EU sehr skeptisch sieht, ist nicht Ihr Mann?

Crouch: Eigentlich nicht. Allerdings sehe ich jüngst positive Anzeichen bei ihm. Aber in der Tat wäre es falsch, reagierten Mitte-Links-Parteien auf ihre Krise mit einer Rückkehr zu alten Rezepten. Nein, die Anerkennung der Marktwirtschaft ist unabdingbar, denn ohne sie ist eine effektive Wirtschaft unmöglich. Zu lange wollte die britische Sozialdemokratie nicht vorwärts in eine bessere Zukunft, sondern sozusagen zurück in eine bessere Vergangenheit. Es kann aber heute nicht mehr um Gegnerschaft zum Kapitalismus gehen, sondern darum, diesen zu gestalten; darum, Antworten auf die durch ihn entstehenden Herausforderungen, Probleme und Fragen zu geben. Etwa, die Entwicklung hin zu immer mehr prekären Arbeitsverhältnissen zu hinterfragen. Oder das Verhältnis von Arbeits- und Lebenszeit neu zu entwickeln. Vor allem aber weltweit eine Politik der Gleichheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Und es geht um eine behutsame Transformation nationaler in transnationale Strukturen, hin zu mehr Multikulturalismus und gesellschaftlicher Modernisierung, wie etwa soziale Probleme nicht mehr, wie die alte Sozialdemokratie, nur durch die Augen der Männer zu sehen, sondern auch durch die Augen von Frauen, Minderheiten und neuen sozialen Gruppen. 






Prof. Dr. Colin Crouch, der Soziologe und Politikwissenschaftler gilt seit dem Erscheinen seines Buches „Postdemokratie“ – eine der „meistbeachteten politischen Schriften der vergangenen Jahre“ (Spiegel) –, die in Deutschland 2008 erschienen ist, als „der Mann, der die europäische Demokratiedebatte aufgeladen hat“ (Zeit). Auch seine folgenden Bücher „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ (2011), für das er den politischen Literaturpreis der Friedrich-Ebert-Stiftung erhielt, und „Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht“ (2015) fanden hierzulande Beachtung. In „Jenseits des Neoliberalismus. Plädoyer für soziale Gerechtigkeit“ (2013) widmet er sich auch der Rolle, die die Sozialdemokratie in Europa in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft spielt. Colin Crouch wurde 1944 in London geboren und lehrte in Oxford, Florenz und seit 2005 an der Universität von Warwick im britischen Coventry. Zudem gehört er der British Academy an.

Foto: Politologe Crouch: „Nation sollte für Sozialdemokraten wichtig sein, muß für sie aber unzureichend bleiben“

 

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