© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/17 / 08. Dezember 2017

„Eine Drecksecke“
Berlin Alexanderplatz: Der legendäre Ort ist Kriminalitätsschwerpunkt geworden
Björn Harms

Eine gewaltige Menschenmasse drängt sich durch den engen Ausgang der S-Bahnstation am Berliner Alexanderplatz. Während die herausströmenden Touristen hektisch zu den nahe gelegenen Sehenswürdigkeiten eilen, versucht ein untersetzter Mann im dunklen Winterparka mit seiner Aktentasche unter dem Arm den entgegengesetzten Weg einzuschlagen. Sein mürrisches Gesicht macht deutlich: Auf dem Berliner Alexanderplatz, den täglich 360.000 Menschen passieren, möchte niemand länger als nötig verweilen. Er ist dreckig, laut, und der Ort ist für steigende Kriminalität berüchtigt. 

„Messerstecherei“, „Kinder attackieren Polizei“, „Razzia gegen Gewalttäter“, „Mann stößt Fahrgast Treppe runter“ – die negativen Schlagzeilen zum Alexanderplatz häufen sich. Nicht umsonst schreiben die Medien abwertend von einem „Wohnzimmer der Gesetzlosen“. 

„Wir haben zu viele Leute, die Alkohol und Drogen konsumieren“, betont ein Polizist, der vor Ort auf Streife ist, „und dann gibt es noch die ganzen Straftaten, Diebstähle, Körperverletzungen, auch mit Waffen wie Messern und Eisenstangen.“ Derzeit sei der Alexanderplatz „eine richtige Drecksecke“. 

Nach der fast vollständigen Zerstörung des Alexanderplatzes im Zweiten Weltkrieg hatte die Ost-Berliner Verwaltung das Areal im Zentrum der „Hauptstadt der DDR“ weitgehend abräumen lassen. Die städtische Bebauung verschwand, der Platz wurde zur Fußgängerzone erklärt und auf rund acht Hektar vergrößert. Viel mehr ist heutzutage nicht geblieben – architektonisches Stückwerk, viel Beton, geschmacklose Konsumtempel, umgeben von mehrspurigen Straßen – und mittendrin ein Bahnhof. Diese phantasielose Gestaltung des Platzes zieht eine entsprechende Klientel aus feierwütigen Jugendlichen und Gescheiterten an. „Wir haben hier eine Mischung, sowohl Obdachlose als auch eine Trinkerszene und neuerdings junge Männer mit Migrationshintergrund, die konfliktträchtig sind“, verdeutlicht der Leiter des Polizeiabschnitts, Rene Behrendt, die brisante Lage. 

Sexualdelikte haben         sich fast verdoppelt 

Laut Angaben der Berliner Polizei stammen die jungen Männer, die hier auffällig werden, vornehmlich aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Sie würden oftmals aus Nichtigkeiten in Streit geraten, berichtet Polizeisprecher Thomas Neuendorf. „Dabei werden Messer gezogen oder die Kontrahenten verletzten sich schwer.“ Die Erfahrungswerte der letzten Monate hätten gezeigt, daß es sich bei den betreffenden Gruppen am Alexanderplatz überwiegend um Flüchtlinge handele, so Neuendorf. 

Um diesen Vorkommnissen Einhalt zu gebieten, entsteht derzeit eine neue Polizeiwache direkt neben der Weltzeituhr, dem zentralen Wahrzeichen des Platzes. Die Eröffnung soll am 15. Dezember erfolgen. „In einer perfekten Welt wäre diese Wache mit 200 Polizisten besetzt“, bedauert Abschnittsleiter Behrendt. Doch Finanz- und Personalmittel reichen nur für 30 Beamte.  Zusätzlich eröffnete Anfang November der Jugendaktionsraum Alexanderplatz (Jara), der helfen soll, die Lage rund um den Verkehrsknotenpunkt zu befrieden. 

Die Zielgruppe: Rund 200 Jugendliche, welche sich immer wieder am Neptunbrunnen in der Nähe des Fernsehturms treffen. Zuvor hatte die Bezirksverwaltung bereits mehrfach versucht, mit Sozialarbeitern an die Migranten heranzutreten – offenbar ohne großen Erfolg. 

Die Behörden listen den Alexanderplatz mittlerweile als den gefährlichsten der zehn „kriminalitätsbelasteten Orte“ in Berlin. Im Gegensatz zu Kontrollen auf normalen Straßen und Plätzen können hier Personen gemäß Sicherheits- und Ordnungsgesetz verdachtsunabhängig durchsucht werden. Ein Blick in die Polizeistatistik offenbart den rasanten Anstieg der Kriminalität. Fast 8.000 Straftaten zählte die Berliner Polizei im vergangenen Jahr auf dem „Alex“, doppelt so viele wie im Jahr 2008. 

In diesem Jahr wurden von Januar bis Oktober 150 Körperverletzungsdelikte mehr als im selben Vorjahreszeitraum erfaßt. Damals waren es 564. Gleichzeitig registrierten die Behörden 425 Straftaten im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln, im Jahr zuvor waren es lediglich 165. Bei den Sexualdelikten hat sich die Zahl fast verdoppelt: 36 Delikte wie Vergewaltigung und schwere sexuelle Nötigung zählten die Beamten bis einschließlich Oktober – 2016 lag die Zahl noch bei unter 20 Delikten. Eine mehr als bedrohliche Entwicklung. 

Als der Mann mit der Aktentasche sich schließlich an den Touristenmassen vorbeigeschoben hat, biegt er schnellen Schrittes vom Vorplatz des Bahnhofs in Richtung Rathausstraße ab. Vor einem Einkaufszentrum fällt sein Blick auf eine bronzene Gedenktafel, die in den Boden eingelassen ist. Sie erinnert an Johnny K., dessen Todestag sich am 14. Oktober zum fünften Mal jährte. Er war nach einer Geburtstagsfeier von sechs türkischstämmigen Jugendlichen auf dem Alexanderplatz brutal attackiert und zu Tode geprügelt worden. Die verurteilten Täter im Alter zwischen 19 und 25 Jahren sind mittlerweile wieder auf freiem Fuß.