© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/17 / 08. Dezember 2017

Wollt ihr den totalen Brexit?
Wirtschaftspolitik: Henkel, Rogowski und Sinn fordern ein Neudenken der Austrittsverhandlungen
Albrecht Rothacher

Die Rhetorik ließ nichts zu wünschen übrig. Eine neue „Schlacht um England“ kündigte der Europaabgeordnete Hans-Olaf Henkel an. Er und seine namhaften Mitstreiter Michael Rogowski, ebenso wie Henkel Ex-Chef des Industrieverbands BDI, und der frühere Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn sehen mit weiteren Prominenten wie dem Unternehmensberater Roland Berger, Transportunternehmer Klaus-Michael Kühne und Ex-Bayer-Chef Manfred Schneider den bevorstehenden Zusammenstoß zweier Züge voraus, nach welchem alle blessiert als Verlierer dastehen werden.

Mögliche Szenarien für den britischen EU-Ausstieg

Daß die deutsche Wirtschaft über die Gefährdung des Zugangs zu ihrem mit 90 Milliarden Euro drittwichtigsten Exportmarkt und die drohende Unterbrechung der Lieferketten für die Pkw-, Elektronik- und chemische Industrie in beiden Richtungen todunglücklich ist, ist nichts Neues. Neu ist, daß Henkel, Sinn und ihre Mitstreiter nicht allein London den Schwarzen Peter zuschieben, sondern auch in Brüssel und Berlin Hauptverantwortliche sehen.

Henkel weist zu Recht darauf hin, daß die Verweigerung des britischen Wunsches nach einer eigenständigen Immigrationspolitik durch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und die EU-Kommission den Ausschlag für das mit 51,9 Prozent denkbar knappe Austrittsvotum im Juni 2016 gab. Die Bedenken der Briten wurden im Sommer 2015 durch die EU-rechtswidrige deutsche Grenzöffnung real. Nach Umfragen war die Einwanderung für 88 Prozent der Austrittsbefürworter das wichtigste Argument. Britische Arbeiter fühlten sich auch von 900.000 polnischen Einwanderern in ihren Berufschancen und Löhnen bedroht. Nicht nur Zigeuner nutzten die kostenlose britische Gesundheitsversorgung (NHS) und trugen zur Verbrechensstatistik bei. Gegenmaßnahmen verbot das EU-Recht als „diskriminierend“. Die vom ehemaligen Premierminister David Cameron geforderte selektive Immigration von EU-Bürgern und die Beschränkung ihres Zugangs zu Sozialleistungen perlten an Angela Merkel und ihren Gesinnungsgenossen in der EU-Kommission, im Ministerrat und im Brüsseler Parlament ab.

Drei Szenarien gibt es für den Brexit. Zum einen, die favorisierte Lösung, wie die Schweiz und Norwegen am Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten in einer Zollunion im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) teilzunehmen, EU-Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht nachzuvollziehen, dafür kräftig zu zahlen und EU-Bürger mit voller Niederlassungs- und Berufsfreiheit ins Land zu lassen. Das ist aber genau das, was London nicht will. Möglich wäre auch ein umfassendes Freihandelsabkommen wie es mit Kanada und Korea bereits existiert und 2019 mit Japan in Kraft treten soll. Ein solches Abkommen benötigt allerdings eine lange Verhandlungsdauer.

Oder schließlich der harte Brexit: Danach gelten bilaterale Zölle und die Regeln der Welthandelsorganisation WHO, ähnlich wie im EU-Handel mit China oder Rußland – und sonst nichts. Damit müssen die Briten an der neuen Zollgrenze zur EU ihre Kontrollen verstärken. Die Kosten für zu erwartende Verzögerungen und durch neue bürokratische Hürden werden von Honda, das in Swindon (Wales) für den Kontinent fertigt, auf 100 Millionen Euro im Jahr geschätzt. Die Zahl von aktuell 55 Millionen Zollerklärungen würde sich dann etwa verfünffachen. Staus und Verzögerungen würden verderbliche Frischwaren und industrielle Lieferketten gefährden, die sich in 40 Jahren des gemeinsamen Marktes eingespielt haben. Britische Fluglinien und Banken könnten in Ermangelung einschlägiger Abkommen ab dem Austrittstag vom 29. März 2019 den Kontinent nicht mehr bedienen. Selbst die Brennstoffversorgung britischer AKWs, die 20 Prozent des Inselstroms erzeugen, ist gefährdet.

Die Wirtschaft stagniert, das Pfund schwächelt

Schon jetzt stagniert die britische Wirtschaft aufgrund der zunehmenden Ungewißheiten. Das schwächelnde Pfund läßt die Importpreise vor allem für Nahrungs- und Arzneimittel, Öl und Gas steigen. Der Absatzmarkt für deutsche Fahrzeuge ist wie in der Krise von 2008 bereits um ein Fünftel eingebrochen. Produktive Investitionen sind rückläufig. Mit den abziehenden Firmen gehen auch wertschöpfende Arbeitsplätze verloren, dies meist sogar dauerhaft.

Es sind nicht nur die Banken, Finanzdienstleister und die Fluglinien, die den baldigen Abgang nach Frankfurt, Paris, Dublin oder Amsterdam planen. Ungarn, die Tschechei, die Slowakei und Polen umwerben aktiv industrielle Investoren. Warum sollten Ford, Nissan, Toyota und Honda, die Margaret Thatcher von 1984 bis 1989 als „trojanische Pferde“ auf die Britischen Inseln lockte, um weiter Fahrzeuge verkaufen zu können, noch auf jenen teuren Standorten produzieren?

Michael Rogowski warnt zu Recht davor, sich kurzsichtig über die möglichen zusätzlichen Arbeitsplätze auf dem Kontinent zu freuen. Wie bei den meisten Ehescheidungen gibt es nur Verlierer. Auf Deutschland könnten laut Bundesrechnungshof EU-Forderungen für das entstehende Haushaltsloch mit möglicherweise fünf Milliarden Euro jährlich zukommen, falls das Budget nicht verringert werde.

So rufen denn Henkel, Rogowski und Sinn zu einem Umdenken in Berlin und Brüssel auf, die eigenen Fehler einzugestehen und den Briten ein neues Angebot zu machen. Statt ständig neuer Geldforderungen für deren früher eingegangene Zahlungsverpflichtungen – derzeit werden 55 Milliarden Euro gehandelt – sollte man ihnen als „new deal“ eine Art faktischer Sondermitgliedschaft anbieten, um den unschönen Rosenkrieg der Scheidungsverhandlungen mit seinen selbstmörderischen Wirtschaftsfolgen alsbald beenden zu können.

Deutschland gewänne so im Rat einen starken Bundesgenossen zurück, der als einer der wenigen freihändlerisch, stabilitätsorientiert ist. Donald Tusk, der kaschubische Präsident des Europäischen Rates und dort im Kreise der EU-Regierungschefs dem Anschein nach der einzige strategische Denker, hatte Ende Oktober bereits die Vision eines „no Brexit“ als Möglichkeit neben „hartem“ und „weichem Brexit“ eröffnet.

Neben einer autonomen nationalen Immigrationspolitik müßte ein Deal mit den Briten mit der Subsidiarität Ernst machen, die teuren EU-Politiken zur Landwirtschaft, Fischerei und zur Regionalentwicklung renationalisieren und mit der Unzahl sinnentleerter Ausgabenprogramme für die Entwicklungshilfe, den Klimawandel und die Erniedrigten und Beleidigten der Welt und ihre NGO-Lobbyisten ebenso Schluß machen wie mit politisch korrekten Brüsseler Einmischungen von der Frauenquote über den Schutz der Molche bis zum Glühbirnenverbot. Damit könnten die Brexitverhandlungen einen unverhofft positiven Ausgang nehmen: nämlich die für unkorrigierbar gehaltene EU endlich an Haupt und Gliedern zu reformieren.

Unterschriftenkampagne „Exit vom Brexit: Ein ’New Deal‘ mit Großbritannien und eine bessere Zukunft für die EU“: new-deal-for-britain.de