© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/17 / 08. Dezember 2017

„Beträchtliche Hindernisse“
Verkehrspolitik: Die Eröffnung der Schnellstrecke Berlin-München offenbart den Abstieg Deutschlands / Problem Unpünktlichkeit ungelöst
Jörg Fischer

Innerdeutsche Flüge sind seit der Air-Berlin-Pleite rar und teuer. Jeden Tag fehlen Zehntausende Plätze im Flugverkehr. Wer von Berlin direkt nach New York oder Peking fliegen will, ist nun auf United und Hainan Airlines angewiesen. Auf kürzestem Weg nach Washington oder Tokio geht es nur über Amsterdam bzw. Helsinki. All das freut die politisch protegierte Lufthansa (LH). Der „deutsche Champion im internationalen Luftverkehr“ (Verkehrsminister Alexander Dobrindt/CSU) kann so noch mehr Passagiere zum lukrativen, aber zeitraubenden Umsteigen in Frankfurt oder München zwingen: Das als Konkurrenz gedachte Drehkreuz Hauptstadtflughafen BER ist eine Bauruine – zur Freude der LH-Aktionäre, von denen jeder Dritte im Ausland sitzt.

Es gibt aber auch gute Nachrichten, denn trotz rot-grüner Torpedierung sowie nach 25 Jahren Planungs- und Bauzeit ist das zehn Milliarden Euro teure „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 8“ (VDE 8) fertig: Ab 10. Dezember „reisen Sie in Rekordzeit mit dem Zug zwischen Berlin und München. Der ICE Sprinter verbindet die Städte in unter vier Stunden“, wirbt die bundeseigene Deutsche Bahn AG (DB). Die neue, 623 Kilometer lange Schnellfahrstrecke mache „die Bahn zur komfortablen Alternative gegenüber Flugzeug oder Auto“, behauptet die DB.

Mit dem ICE nun schneller als mit der Lufthansa?

Im dazu eigens gedrehten Werbespot schafft es selbst Formel-1-Weltmeister Nico Rosberg im grau-matten Maserati nicht, über die nur 589 Kilometer lange, aber staugeplagte Autobahnstrecke schneller von München nach Berlin zu kommen. Einzige zeitliche Alternative ist seit dem Air-Berlin-Ende ein teurer 70minütiger LH-Flug: Hier lauern aber penible Sicherheitskontrollen und Warteschlagen beim Boarding und am Gepäckband. Hinzu kommt eine dreiviertelstündige Bahnfahrt von der Münchner Innenstadt zum Franz-Josef-Strauß-Flughafen. Nur der politisch verteufelte Innenstadtflughafen Berlin-Tegel ist per Taxi schnell erreichbar. Wer entspannt vom Brandenburger zum Marientor reisen will, sollte also künftig eine Fahrkarte kaufen? Theoretisch ja – aber die Praxis sieht auch künftig anders aus.

„Wir sind bei der Pünktlichkeit noch nicht da, wo wir hinwollen“, gestand Bahnchef Richard Lutz vorige Woche in der Süddeutschen Zeitung ein. Das Ziel von 81 Prozent pünktlichen Zügen werde die Bahn 2017 nicht erreichen. Das 85-Prozent-Langfristziel werde man aber nicht aufgeben, „auch wenn auf dem Weg dorthin beträchtliche Hindernisse zu beseitigen sind“, so der 53jährige Betriebswirt. Der Saarländer Lutz vergleicht die DB wohl mit der französischen Staatsbahn SNCF, deren TGV-Züge zwar sogar noch schneller sind (Paris-Bordeaux: nur 124 Minuten für 537 Kilometer), aber auch nicht immer den Fahrplan einhalten.

Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) sind hingegen nicht nur pünktlich, sondern zugleich auch sauber und zuverlässig – aber gemütlich unterwegs: Nur auf wenigen Strecken werden 220 Kilometer in der Stunde erreicht. Auf den etwa 280 Kilometern zwischen Zürich und Genf ist der IC-Neigezug 166 Minuten unterwegs. Das ist eine halbe Stunde mehr, als der Acela-Express für die ähnlich lange Strecke zwischen New York und Baltimore braucht – wenn Gleisschäden und Schienenersatzverkehr dies bei Amtrak nicht verhindern.

Im Sommerfahrplan 1939 war der Dieseltriebzug SVT 137 („Fliegender Hamburger“) zwischen München und Berlin sechs Stunden und 44 Minuten unterwegs – mit Stopps in Nürnberg und Leipzig und ohne Neubaustrecke mit zahlreichen Tunnels und 37 Talbrücken. Der elektrische ICE T brauchte im Fahrplan 2016/17 – bei elf Zwischenhalten – lediglich 29 Minuten weniger, da er seine erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 230 auf der Altstrecke kaum ausfahren konnte. Der für Tempo 300 zugelassene ICE 3 braucht über die neu errichtete Hochgeschwindigkeitsstrecke durch den Thüringer Wald und Franken – mit Stopps in Nürnberg, Erfurt und Halle – künftig drei Stunden und 55 Minuten. Von Berlin bis Leipzig/Halle ist weiterhin nur Tempo 200 erlaubt.

Die ICE Sprinter starten allerdings nur dreimal täglich in Berlin und München – jeweils um 6, 12 und 18 Uhr. Die Hauptlast tragen die weiter genutzten ICE T: Sie brauchen mit sieben bis zehn Zwischenhalten bis zu fünf Stunden – das dürfte die Lufthansa freuen. Die Universitätsstädte Jena und Weimar sind durch das neue Streckenkonzept vom ICE-Netz abgekoppelt. Von Berlin nach Frankfurt ist die DB dafür etwas länger unterwegs: Der Sprinter-ICE 1091, der ohne Halt via Braunschweig/Kassel fuhr, brauchte für die Strecke drei Stunden und 38 Minuten. Der Nachfolger-Zug ICE 1638 ist – via Erfurt/Halle – 16 Minuten länger unterwegs.

Bummeln zwischen Berlin und Dresden

Zwischen Berlin und Dresden wird weiter nicht das Vorkriegsniveau erreicht. Der mit einer Stromlinien-Dampflok bespannte Henschel-Wegmann-Zug schaffte das vor 80 Jahren in einer Stunde und 40 Minuten. Der Eurocity 379 braucht mit einer E-Lok acht Minuten länger. Da ist kein Nico Rosberg vonnöten, um dies selbst im schwächsten Volkswagen zu unterbieten. Wer den EC 379 von Hamburg bis Prag nutzen will, sollte weiterhin viel Zeit mitbringen: Sechs Stunden und 44 Minuten dauert die Fahrt über etwa 620 Kilometer. Dafür lockt aber ein tschechischer Speisewagen, und ab Tetschen (Decín) funktioniert sogar das kostenlose WLAN im Zug. Billiger als ein Czech-Airlines-Flug ist die Reise ohnehin.

Japaner können über die westliche Bahnmisere nur müde lächeln: Nur 19 Jahre nach Kriegsende wurde anläßlich der Olympischen Sommerspiele pünktlich die weltweit erste mit Tempo 200 befahrene Zugstrecke eröffnet: Für die 515 Kilometer zwischen Tokio und Osaka brauchte der Tokaido-Shinkansen vier Stunden. Heute dauert es zweieinhalb Stunden – bei weiterhin einmaliger Pünktlichkeit und Sicherheit.

Seit 2016 sind die japanischen Hauptinseln sogar durchgängig per Shinkansen-Schnellstrecken verbunden: Von Hakodate auf Hokkaido geht es über Tokio und Osaka auf Honshu über 2.200 Kilometer nach Kagoshima an der Südspitze von Kyushu. Der 54 Kilometer lange Seikan-Tunnel, der das Meer zwischen Hokkaido und Honshu unterquert, wurde bereits 1988 eröffnet – sechs Jahre vor dem Eurotunnel zwischen England und Frankreich.

Schnellfahrstrecke Berlin-München:  bahn.de/