© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/17 / 08. Dezember 2017

Darf’s ein bißchen mehr sein
Schwangerschaft: Wie die Pharmaindustrie die Sorgen von Schwangeren ausnutzt
Verena Rosenkranz

Es ist Punkt fünf Uhr dreißig morgens. Viel zu früh. Mich weckt ein fröhliches „Guten Morgen, Mamaaaa“ um diese unchristliche Uhrzeit aus meinem Schlaf der Gerechten. Flinke Kinderfüße trapsen über den Flur und huschen in das Elternschlafzimmer.

Noch im Halbschlaf packe ich meine Tochter unter die Bettdecke und genieße die letzten ruhigen Minuten, bevor der Tag anbricht. Sie ist gesund. Welch ein Glück. Reiner Zufall, glaubt man den vielen Ärzten, Apothekern und selbsternannten Gesundheitsexperten quer durch Deutschland und Österreich.

Ein gesundes Essen war das einzige, was mich durch die Schwangerschaft mit ihr begleitete. Viel zuwenig, nach Einschätzung der gleichen Experten. Ein regelrechtes Risiko. Mindestens die doppelte bis dreifache Menge an Eisen, Niacin (strafft angeblich die Haut), Mangan (gegen Orangenhaut) und Metafolin (aus was genau es besteht, wissen nur die Hersteller, da es streng geheim patentiert ist) müßten es sein, wenn man nicht gerade eine körperliche oder geistige Behinderung des Nachwuchses in Kauf nehmen will. Dies zu verhindern, ginge nun einmal nur durch die zusätzliche Einnahme von Vitaminpräparaten.

Dreimal täglich mit Vitamin-Präparaten versorgen

Wie, ich wolle aus guten Gründen darauf verzichten? Dadurch würde ich doch allerlei Erkrankungen regelrecht fördern. Wie ich in der heutigen Zeit nur darauf kommen könne, dem enormen Fortschritt der Pharmaindustrie zu entsagen, waren gängige Fragen von Medizinern bis hin zu Bekannten.

Die Frage, ob ich denn auch Impfgegner sei, folgte meist auf dem Fuße. Nein, zumindest nicht pauschal. Hier gibt es nämlich zumindest meistens einen medizinisch erwiesenen Nutzen, den auch die Krankenkassen erkannt haben und darum in Zusammenarbeit mit der ständigen Impfkommission die Grundimmunisierung übernehmen.

Anders als bei ganz und gar nicht als medizinisch notwendig indizierten Vita-minpräparaten in der Schwangerschaft. Wären sie so notwendig, wie uns Apotheker und Ärzte weismachen wollen, stünde ein breitenwirksames Präparat längst auf der Liste der Kassen. Was auch bedeuten würde, daß deren Einnahme mehr Nutzen als Schaden bringt. Und eben nicht umgekehrt. Doch was würde eine Schwangere nicht alles geben, um das Leben ihres ungeborenen Kindes zu schützen und zu verbessern? Ihm den besten Start in diese große weite Welt zu ermöglichen?

Und dafür löhnen Frauen in guter Hoffnung zwischen Hamburg und Klagenfurt nicht weniger als 30 bis 60 Euro im Monat. Allerdings nicht neun Monate lang, sondern ganze 18. Immerhin müsse man etwaige Präparate schon drei Monate vor Beginn der Schwangerschaft einnehmen und dies bis sechs Monate danach während des Stillens weiter tun.

Was mit Frauen passiert, die im zweiten Monat noch immer nichts von ihrem Bauchbewohner wissen und darum gar keine Möglichkeit hatten, vorsorglich zu den Pillen zu greifen? Gnade ihnen im besten Fall Gott. Wie unsere Vorfahren in Zeiten ohne Femibion, Pregnavit, Tetesept-Pillen und Vitaminpackungen aus Drogeriemärkten mit homöopathischer Dosierung überlebt haben und gesunde Kinder zur Welt brachten? Vergangen, vergesssen, vorbei.

Wer sich darauf allerdings nicht verlassen will, sollte sich und das ungeborene Kind tunlichst bis zu dreimal täglich mit allerlei Vitaminpräparaten „versorgen“, die unsere natürlichen Nahrungsquellen nach Auskunft der Hersteller nie und nimmer beinhalten würden. „Das ist natürlich ganz Ihnen überlassen, ob Sie das nun auch wirklich tun oder nur als Empfehlung annehmen“, sagte mir vor ein bißchen mehr als zwei Jahren mein Gynäkologe. „Aber ein offener Rücken, Gaumenspalten, verminderte Denkleistung oder nicht fertig ausgebildete Gliedmaßen und viele weitere Umstände könnten auf einen Mangel in der Versorgung zurückzuführen sein.“ Die Frage, ob ich ansonsten völlig gesund und schwangerschaftstauglich sei, bestätigte er mir freudig.

Ich wechselte den Arzt, meine neue Ärztin wagte sich nicht ganz so weit aus dem Fenster, wollte aber zumindest auf die Einnahme von Folsäure auch nicht ganz verzichten. Und das, obwohl bereits 2005 eine Studie mit Probanden aus ganz Europa ergab, daß es keinen signifikanten Unterschied zwischen der Einnahme und der Nicht-Einnahme dieses Vitamins gibt.

Bei 80 Schwangeren der Busby-Studie, die ein Kind mit einem Neuralrohrdefekt trugen, zeigten die B-Vitamine im Blut (aber auch Homocystein, Cystein, Methionin und Cholin) keine greifbaren Unterschiede zu Schwangeren mit gesunden Kindern. Vielmehr wurde ein gehäuftes Vorkommen von Asthma beobachtet, wenn die Mütter während der Schwangerschaft Folate eingenommen hatten. Was zunächst wie ein zufälliger Befund wirkte, wird inzwischen von aktuellen Ergebnissen wie dem der Veeranki-Studie im Jahr 2015 bestätigt. Bei der Recherche, wie ein Spina bifida, also jener angedrohte offene Rücken, entsteht, hilft der Beitrag „Folsäure Update“ von der Lebensmitteltechnologin Jutta Muth.

Allein die Hebamme riet einfach zu Gelassenheit

Sicher sei demnach, daß Neuralrohrdefekte von Medikamenten und von Schimmelpilzgiften ausgelöst werden. Bei feuchter Witterung wird vor allem Mais befallen. In der Viehzucht wird auf rückstandsarmes Futter besonderer Wert gelegt, Biomais scheidet darum oftmals aus. Seit Neugeborenen-Studien wie etwa „Groen In’t Woud 2016“ jedoch ergaben, daß Supplemente aus Folsäure oftmals dafür Mißbildungen von Nieren und Harnwegen begünstigen, werden Folate bei Tieren erst gar nicht eingesetzt. Ironischerweise bei Menschen jedoch immer noch.

Wäre es für die Gesundheitsbranche nicht wesentlich sinnvoller, auch Biomais und Produkte daraus auf die schier unendliche Liste der Tabu-Lebensmittel während der Schwangerschaft zu setzen?

Meine Hebamme kostete die Geschichte ein müdes Lächeln. Sie war die einzige, die mir zu einer bewußten und gesunden Ernährung riet und mir empfahl, die Schwangerschaft in vollen Zügen zu genießen. Meine Blutwerte seien schließlich – so wie die von den meisten Schwangeren – im völlig normalen Bereich. Sollte sich daran etwas ändern, könne man die Lage nochmals neu beurteilen. Die Frage lief für mich persönlich jedoch vielmehr darauf hinaus, wer denn gerne bewußt ein krankes oder gar behindertes Kind in Kauf nehmen will, wenn es doch so leicht zu verhindern gewesen wäre? Ein paar luxuriöse Vitaminpräparate und gut ist es. Nützt es nichts, schadet es nichts.

Oder doch? Wer garantiert mir das? Könnte eine Erkrankung nicht vielleicht auch durch ein „Zuviel“ dieser Mittelchen zustande kommen? Ein schmutziges und moralisch höchst verwerfliches Geschäft mit dem Gewissen von Schwangeren, eine differenzierte Aufklärung fehlt gänzlich. Es gibt wahrscheinlich kaum eine Personengruppe, die leichter von der Einnahme allerlei Hilfsmittel zu überzeugen ist als werdende Mütter.

Ähnlich sieht das auch der führende Lebensmittelchemiker Udo Pollmer, wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften e. V. (4/12). In einer Zeit, in der viele Menschen das Gefühl hätten, zu kurz zu kommen, falle die Philosophie des „subklinischen Mangels“ auf fruchtbaren Boden, schrieb Pollmer 2016 in einer Kolumne für das Deutschlandradio Kultur über Supplemente für Schwangere. „Nur braucht der Körper niemals von all diesen Substanzen stets Höchstkonzentrationen – schon allein deshalb nicht, weil sich viele Stoffe in ihrer Wirkung gegenseitig aufheben.“

Wie die Hersteller solcher Präparate zu diesen Aussagen stehen, kann nur vermutet werden. Eine Anfrage ließ beispielsweise der derzeit führende Erzeuger von Vitaminpräparaten, die Merck-Gruppe aus Düsseldorf mit ihrem Produkt „Femibion“, unbeantwortet. In welche medizinische – oder vielmehr nicht-medizinische – Sparte ihr Erzeugnis einzuordnen ist, läßt aber der Internetauftritt vermuten. Dort wird unter der Rubrik „Selbstmedikation“ etwa auf das rezeptfreie Femibion oder Nasivin verwiesen.

Aber auch wer das teure Lehr- und Gewissensgeld zahlen will und kann, ist spätestens ab dem Aufklärungsgespräch über potentielle Krankheiten des Neugeborenen derart verunsichert, daß wöchentliche Ultraschalluntersuchungen zur Routine werden. Hat es alle Finger? Schlägt das Herz noch? Ist der ständige Schluckauf im Bauch auf eine Behinderung zurückzuführen? Was weiß man schon angesichts der schier endlosen Liste an Beschwerden, die ohne die Pharmaindustrie auftreten könnten.

Doch keine Sorge. Auch hier gibt es Abhilfe – für jene, die einen gut gefüllten Geldbeutel mit in die Schwangerschaft nehmen. In Wien etwa kostet eine Ultraschalluntersuchung rund 50 Euro und wird nicht von der Kasse übernommen.  Überfüllte Notfallambulanzen mit den Angaben kreativster Beschwerden und Unfallhergänge sind die Folge, nur um den kleinen Bauchbewohner am schwarz-weißen Monitor bei bester Gesundheit zu sehen.

Auch in Deutschland übernehmen die Kassen nur maximal drei Aufnahmen des Nachwuchses im Bauch. Ein Plan, der grundsätzlich funktionieren würde, wären da nicht von außen hervorgerufene Gewissensbisse. Wer sich zwischenzeitlich unwohl fühlt, Probleme hat oder einfach nur auf Nummer Sicher gehen möchte, zahlt auch in Berlin, Frankfurt oder München zwischen 30 und satten 120 Euro.

Investitionen in die         Forschung gehen zurück

Meine Tochter streicht über meinen Bauch, in dem gerade ihr Geschwisterchen heranwächst. Wird es gesund sein? Der Gedanke, das Hoffen und letztendlich das Urvertrauen in unsere Körper wird uns noch weit über die Geburt hinaus begleiten. 

Unsere Nachbarn haben vor wenigen Monaten ebenfalls Nachwuchs bekommen. Eine kleine, gebrechliche Sophie. Sie leidet an einer Immunschwäche, benötigt teure und nur mit großen Nebenwirkungen anschlagende Therapien. Die Mittel und Verfahren sind nicht ausgereift genug, sie macht nur schwache gesundheitliche Fortschritte. Die Pharmaindustrie hat noch kein Wundermittel gefunden. Zu gering ist die Gruppe der Abnehmer, die Forschung auf dem Sektor der pränatalen Traubenzuckerpräparate lohnenswerter.

Doch nicht nur dieser Bereich wird vernachlässigt, auch viele weitere Forschungsschwerpunkte wurden in den vergangenen Jahren zugunsten von milliardenschweren Geschäftsdeals innerhalb der Branche außer acht gelassen. Historisch gesehen hatten sich Pharmafirmen der Forschung und Entwicklung neuer Medikamente zum Wohl des Menschen verschrieben. Das Gegenteil beweist allerdings eine Studie von Deloitte, die zeigt, daß die Rendite aus der Forschung bei den führenden zwölf Pharmakonzernen drastisch abgenommen hat. Während 2010 noch knapp zehn Prozent des Profits in die Forschung wanderten, waren es 2015 nur noch vier Prozent.