© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/17 / 08. Dezember 2017

Pankraz,
J. Massenet und das Aus für Schwanensee

Jetzt geht es ans Eingemachte. Nicht nur mehr die Texte in den klassischen Operninszenierungen sollen „aktualisiert“ und dem herrschenden Zeitgeist angepaßt werden, sondern endlich auch die klassische Musik selbst, nicht nur die Opern, auch und vor allem die  großen Symphonien, Passionen, Sonaten, Ballette … All das, so tönt es jetzt zur Adventszeit von einflußreichen Seiten, sei doch überholter Plunder, der gründlich umgeformt werden müsse, wenn er überleben wolle. Die ganze, auf „Klassik“ getrimmte gehobene Konzertkultur müsse radikal erneuert werden. Sie müsse „wilder, heutiger, fremder“ werden.

In „Capriccio“, der Kultursendung des Bayerischen Rundfunks, tobte vorige Woche ein Herr namens Berthold Seliger viertelstundenlang gegen das Übergewicht der Bach, Händel, Mozart, Beethoven und ihrer angeblich allzu willigen Interpreten bei großen Feiertagskonzerten an. Dieser „Betrieb“ stehe doch längst auf dem Aussterbe-Etat, es gingen immer weniger junge Leute hinein, es herrsche ein monströser Überalterungsprozeß unter den Konzertbesuchern, ein schein-elitäres Gehabe und Getue, das nicht das Geringste mehr mit unserer Lebenswirklichkeit zu tun habe.

In der Süddeutschen Zeitung meldete sich die Feministin Dorion Weickmann zu Wort, die sich vor allem über die Weltfremdheit und Unaktualität des klassischen Balletts aufregte. „Schwanensee“, wohin das Auge auch blicke (gemeint war das berühmte Tanzstück von Tschaikowski). Dabei sei es doch bitter nötig, den Sexismus in der Ballettwelt zu thematisieren und musikalisch und choreographisch vorzuzeigen. „Weg mit dem ewigen Kavaliersgetue“, ruft Weickmann, „mit dem Primat der Hetero-Ästhetik, dem ganzen Museumsplunder rund um den ‘Schwanensee’.“


Entscheidend wird nun sein, wie die großen Dirigenten und Konzertmeister auf Seliger, Weickmann & Co. reagieren. Sie sind ja eine Art Museumsverwalter, sie vor allem hüten „den Plunder“, also das Erbe der klassischen Musik von Monteverdi und Bach bis Wagner und Tschaikowski, erhalten es lebendig, breiten seine Fülle und Großartigkeit vor uns Hörern aus, dokumentieren sowohl seine spontane Popularität wie auch seine hochelitäre Kunstfertigkeit, welche, anspruchsvollste geistige Mitarbeit erfordert.

Um genügend Publikum müssen sie sich dabei nicht sorgen; ihre großen Konzerte sind – Seliger zum Trotz – nach wie vor gut gefüllt; sämtliche Geschlechts- und Altersklassen sind vertreten. Und kein Dirigent hat sich bisher an den klassischen Urtexten vergriffen, will sagen: die originären Notentexte nach eigenem Gusto umgeändert oder durch neue, eigene Texte ersetzt. Es ging immer „nur“ um sekundäre Zeichen, um Tempi und Fermaten, Lautstärke und Lautstille und zusätzliche psychologische Feinheiten bei den einzelnen Instrumenten.

Wenn man etwas generell Lobendes über die Klasse der Dirigenten sagen darf, dann gewiß dieses: Es waren immer strenge Hüter des Eigentlichen, dessen also, was wirklich gemeint war. Bis in die Spätrenaissance hinein haben Orchester ja ohne Dirigenten gespielt, und niemand nahm Anstoß daran. Der Orchesterpianist korrigierte während der Proben anhand der Partitur die Fehler, und der erste Geiger gab mit seinem Bogen das Tempo an. Erst mit Anbruch der Klassik änderte sich das. Man nahm von da ab die Musik als Heilsbringer wirklich ernst, und der Dirigent wurde ihr Priester.

Er hatte, um akzeptiert zu werden, einiges vorzuweisen, nicht zuletzt ein ungeheures Gedächtnis, das ihn von der ewigen Notenkopiererei unabhängig machte. Von Dirigenten  wie Hans von Bülow oder Arturo Toscanini sind schier unfaßbare Gedächtnisleistungen überliefert. Bülow brauchte eine Symphonie, die ihm bis dahin unbekannt war, nur ein einziges Mal rasch durchzulesen, um sie makellos aus dem Kopf nachspielen zu können. Zu Toscanini, der von Haus aus Cellist war, kam unmittelbar vor einem Riesenkonzert ein Bassist und klagte, ihm sei die E-Saite gerissen. „Spielen Sie ruhig“, sagte ihm Toscanini, „Sie werden die E-Saite heute nicht brauchen.“ Und es stimmte tatsächlich!


Außer exzellentem musikalischen Gedächtnis wird von Dirigenten noch manches mehr gefordert: Kommunikationsfreudigkeit, durchaus auch Herrschaftswillen, vor allem aber intime Menschenkenntnis. Denn es gibt wohl nichts, was schwieriger zu führen wäre als ein gut aufeinander eingespieltes, selbstbewußtes Orchester, in dem jeder einzelne ein Meister seines Instrumentes ist. Unzählige Erzählungen geben darüber Aufschluß, wie leicht das Orchester seinen Dirigenten blamieren, ihn der Unkenntnis überführen oder „auflaufen“ lassen kann.

Jules Massenet (1842–1912), selber ein großer französischer Komponist (siehe seine Oper „Werther“) und einer der gefeiertsten Dirigenten seiner Zeit, gab sich – wohl im Gegensatz zu manchem seiner Kollegen – keinen Illusionen hin. Immer wenn er vor ein neues Orchester zu treten hatte, machte er sich zunächst einmal ganz klein, verdrehte hilfesuchend die Augen und sprach zu den Musikern: „Und nun, meine Lieben, paßt gut auf und dirigiert mich anständig, n’est-ce pas?“

Das Orchester (jedes seiner Orchester) reagierte begeistert und lieferte unter Massenets  Dirigat eine Spitzenleistung nach der anderen ab. Auch die Presse der damaligen Belle Epoche zeigte sich sehr zufrieden, Massenet, so war zu lesen, sei „der wahre Maestro“, so wie man ihn sich nur wünschen könne. Heute wären solche Lobsprüche völlig undenkbar. Vielmehr müßte man fürchten, daß ein von außen gesteuertes „Publikum“ aus „gerechter Empörung“ den Konzertsaal stürmt, den Maestro verprügelt und die (meistens recht teuren) Instrumente der Musiker zerschlägt. 

Alles muß eben „wilder, heutiger und fremder“ werden. „Schwanensee“ oder Beethovens „Eroica“ waren gestern. Mancher fremde Bach- oder Tschaikowski-Liebhaber wird sich wohl sehr darüber verwundern, was hierzulande inzwischen alles als fremd gilt.