© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/17 / 08. Dezember 2017

Wie das Gemeinwohl von Fachleuten zerredet wird
Ihre Interessen statt unsere
Konrad Adam

Neulich, am Tag der Deutschen Einheit, hat der Bundespräsident die neuen Mauern in den Köpfen beklagt. Er sprach vom Auseinanderfallen der Gesellschaft in Stadt und Land, Alt und Jung, Ost und West und was dergleichen Unterschiede mehr sind. Über die wachsende Entfernung zwischen der Macht und der Ohnmacht, dem Abstand zwischen Wählern und Gewählten, dem Mißtrauen zwischen dem Volk und seinen Vertretern sagte er nichts. Und doch wäre das sein Thema gewesen.

Denn die Macht kapselt sich ab. Sie ist zur Sache von Experten geworden, von Fachleuten zur Bekämpfung des politischen Gegners. Die Bürger sind in der Arena nur noch als Zuschauer willkommen; sie sitzen auf den Rängen, weit entfernt vom Kampfplatz, und sollen da auch sitzen bleiben. Peter Altmaier, früherer Kanzleramtsminister und enger Vertrauter von Frau Merkel, hat nicht einmal übertrieben, als er erklärte, daß eine Partei um so lebendiger sei, je weniger Mitglieder sie habe. Es war dann auch nur konsequent von ihm, die Wähler dazu aufzurufen, lieber zu Hause zu bleiben, als die AfD zu wählen. Der Bürger stört, er stört die Herrschenden beim Herrschen.

Altmaiers Parteichefin verkörpert diese Art von abgehobenem Parteibetrieb wie niemand sonst; nicht einmal Schröder, der Basta-Kanzler, kam an sie heran. Mit ihrer Formel, daß es hierzu oder dazu keine Alternative gebe, beansprucht Frau Merkel ein Fachwissen, das Kritik überflüssig macht und Einwände ins Leere laufen läßt. Sie spricht als Expertin, nicht als Politikerin; denn Politik kennt keine definitiven Lösungen, sie kennt nur vorläufige Antworten. Frau Merkel will aber mehr, sie möchte, wie sie selbst sagt, durchregieren, und dazu kann sie die Demokratie mit ihren umständlichen Prozeduren, mit ihren Wahlen und Abstimmungen, ihren Debatten, Klagen und Petitionen nicht gebrauchen.

Den Zeitgeist hat sie damit hinter sich. Denn in einer komplexen, unübersichtlichen, technisch anspruchsvollen Welt hat der Experte gute Karten. Seine Legitimation bezieht er nicht von unten, sondern von oben, aus einer höheren Einsicht oder einer tieferen Moral, die ihn vom Zuspruch des Volkes unabhängig macht. „Wahrheit statt Mehrheit“ heißt die Devise, unter der er sich überall zu Wort meldet und allenthalben nach Gehör verlangt.

Dagegen wäre wenig einzuwenden, wenn er tatsächlich nur der Sache dienen würde; so ist es aber nicht. Denn mit der Sache dient der Fachmann auch sich selbst. So wie der Kaufmann kaufen und der Liebhaber lieben will, vertritt der Fachmann sein Fach. Er weiß: Je wichtiger sein Fachgebiet, desto gefragter (und teurer!) er selbst. Der unabhängige Experte ist nie ganz unabhängig, zumindest nicht so unabhängig, wie er glauben machen will. Je genauer man hinsieht, desto klarer erkennt man im Experten den Interessenten – einen Interessenten allerdings, der seine Interessen nicht wahrhaben will.

Der Fachmann kennt nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, den aber gründlich; deshalb wird er ja konsultiert. Vom Politiker erwarten wir dagegen mehr; er sollte möglichst viel vor Augen haben, am besten alles, die ganze sogenannte „Lage der Nation“. Er ist Fachmann fürs Allgemeine, Vertreter aller möglichen Interessen, zuständig fürs Große und Ganze. Das meinte Rousseau, als er dem Willen der Vielen seinen abstrakten Gemeinwillen entgegensetzte, die berühmte „Volonté générale“, und diesen Gemeinwillen zum Maßstab der Politik erhob.

Gemeinwohl ließe sich mit Röpke so definieren: ob die Menschen heute unter Bedingungen leben, die ihnen erlauben, ein normales Familienleben zu führen, ihre Kinder normal zu erziehen, sich der Gesellschaft in normaler Weise zugehörig zu fühlen.

Leider ist er abstrakt. Um ihn konkret werden zu lassen, hat man das allgemeine Interesse in seine Bestandteile zerlegt und Vertreter, Interessenvertreter, mit ihrer Wahrnehmung beauftragt. Was dabei herauskommt, läßt sich mit Blick auf die Rundfunk- und Fernsehräte ermessen, in denen alle „gesellschaftlich relevant“ genannten Gruppen ihre Vertreter sitzen haben. Als relevant gelten dabei nicht nur der Bund und die Länder, nicht nur Parteien und Verbände, nicht nur die Kirchen, Gewerkschaften und Arbeitgeber, nicht nur Verbraucher-, Natur- und Umweltschützer, sondern auch Ehrenamtliche und bürgerschaftlich Engagierte – was immer unter diesen Begriffen zu verstehen sein mag.

Man nennt das Pluralismus, Interessenpluralismus. Der Theorie nach bilden diese Interessen eine Art Kräfte-Parallelogramm, aus dem sich eine Resultante ergibt, die das allgemeine Wohl darstellt. Die Aufgabe der Politik bestünde dann darin, die Resultante auszumachen und umzusetzen. Tut sie das, dann hat sie ihren Auftrag erfüllt, und alles wird gut – meint die Theorie.

Aber die Vorstellung ist falsch, das Parallelogramm funktioniert nicht, die Resultante kommt nicht mehr zustande. Statt dessen werden Fragen aufgeworfen, aber nicht beantwortet; Herausforderungen erkannt, aber nicht angenommen; Probleme formuliert, aber nicht gelöst. Es passiert genau das, was sich unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl herausgebildet hatte und unter der von Merkel zur Regel geworden ist. Politik für Politiker also, nicht fürs Volk.

Die Pluralismus-Theorie ist nur Poesie, die Praxis sieht ganz anders aus. In der geht es nach der Forsthoffschen Regel, benannt nach dem bekannten, längst verstorbenen Staatsrechtslehrer Ernst Forsthoff. Sie lautet so: In der interessengesteuerten Demokratie stoßen die allgemeinsten Interessen notwendigerweise auf die größte Zahl von entgegenstehenden Einzelinteressen. Das hat zur Folge, daß gerade die allgemeinsten Interessen im pluralistisch organisierten Staat am gründlichsten mißachtet und übergangen werden. Im Pluralismus hat das Gemeinwohl einen schweren Stand, gegen die Übermacht der wohlorganisierten Einzelinteressen kommt es nicht auf.

Wenn das so ist: Wie soll man das Gemeinwohl definieren? Ich versuche es im Anschluß an Wilhelm Röpke, den großen Ökonomen der ersten Nachkriegszeit. In seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ schreibt er: „Fragen wir zuallererst danach, ob die Menschen heute unter Bedingungen leben, die ihnen erlauben, ein normales Familienleben zu führen, ihre Kinder normal zu erziehen, sich der Gesellschaft in normaler Weise zugehörig zu fühlen und ihre Arbeit so zu verrichten, daß sie zu einem sinnvoll erfüllten Teil ihres Lebens wird.“ So oder so ähnlich würde auch ich antworten, wenn ich nach Inhalt, Sinn und Umfang von allgemeinen Interessen gefragt würde.

Und was ist nun nach sechs Jahrzehnten christ- und sozialdemokratischer Vorherrschaft aus diesem Fragenkatalog geworden? Ich würde sagen: Nichts. Zusammen mit der Vorstellung ist auch der Begriff von Normalität verlorengegangen. Kann man ein Land, das seine Grenzen nicht mehr schützt, noch als normal bezeichnen? Darf man Politiker, die sich nicht ihren Wählern, sondern irgendwelchen Lobbyisten verpflichtet fühlen, noch als normal ansehen? Ist es normal, leistungsabhängige Gehaltsbestandteile in Millionenhöhe an Leute zu bezahlen, die den Ruf ihres Unternehmens in Grund und Boden gewirtschaftet haben? So oder so ähnlich könnte ich weiterfragen.

Kaum etwas von dem, was Röpke als normal beschrieben hatte, gilt heute noch als normal. Im Gegenteil: Normal genannt werden Familien mit zwei Müttern, drei Vätern oder vier Transen. Die Kinder enthemmten Pädagogen auszuliefern, wird als normal betrachtet, dagegen aufzubegehren, als anormal. Arbeitsverhältnisse, die so schlecht bezahlt werden, daß man drei oder vier von ihnen braucht, um über die Runden zu kommen, gelten als normal, Jahreseinkommen in zweistelliger Millionenhöhe auch – und so weiter.

Demgegenüber nennt Röpke alles das normal, was die Gesellschaft zusammenhält. Was Gemeinsamkeiten stiftet, die über den Tag hinausweisen und Deutschland als ein Land erhalten können, in dem sich auch morgen noch gut leben läßt. Normal wäre das Interesse am Fortbestand der Gemeinschaft, verkörpert durch einen Nachwuchs, der leistungsfähig und leistungswillig genug ist, um die ihm aufgehalsten Lasten auch zu tragen.

Die Politik kümmert sich um die Interessen aller möglichen ethnisch, religiös, sexuell oder sonstwie definierten Minoritäten, nur nicht um die Interessen der mit Abstand größten und wichtigsten Minderheit im Lande, um die von Kindern. Die mißachtet sie.

Doch davon will die Politik nichts hören. Sie kümmert sich um die Interessen aller möglichen ethnisch, religiös, sexuell oder sonstwie definierten Minoritäten, nur nicht um die Interessen der mit Abstand größten und wichtigsten Minderheit im Lande, um die von Kindern. Als es die Familie endlich einmal auf die Tagesordnung des Bundestages geschafft hatte, war von Kindern und deren Wohl kein einziges Mal die Rede. Keine Interessen werden in Deutschland so gründlich mißachtet wie die von Kindern. Sie haben bei der Wahl keine Stimme – und das bekommen sie zu spüren.

Deutschland leidet an einer doppelten Armut, der Armut an Kindern und unter Kindern. In einem der reichsten Länder der Welt ist Kinderreichtum der sicherste Weg in die relative Armut – jedenfalls dann, wenn man Deutscher ist, regelmäßig zur Arbeit geht und pünktlich seine Steuern zahlt. Ist man aus Syrien gekommen, hat seine Großfamilie mitgebracht und an der Grenze das Wort Asyl gestammelt, ist man erheblich besser dran, denn, wie die Hans-Böckler-Stiftung hervorhebt, ist es für Flüchtlinge vorteilhaft, in das Hartz-System zu wechseln, weil das gegenüber den Leistungen für Asylbewerber mit Verbesserungen verbunden ist (FAZ, 25. Oktober). All das geschieht auf Geheiß einer Regierung, die behauptet, jedes Kind habe dem Staat gleich viel wert zu sein.

Die Grünen nennen das positive Diskriminierung; zu der es, wie sie behaupten, aus historischen Gründen keine Alternative gebe, zumindest nicht in Deutschland. Für jeden einzelnen mag das ein glänzendes Geschäft sein, weil man in Deutschland, alt geworden, Anspruch auf die Versorgung durch Kinder hat, für die man selbst nichts getan hatte. Frau Merkel hat diese Ansprüche sogar dem Volksvermögen zugeschlagen: die beispiellose Chuzpe einer kinderlosen Frau. Denn diese Ansprüche stehen ja nur auf dem Papier. Ob sie und wie sie eingelöst werden, hängt davon ab, ob genug Kinder da sind, die Forderungen zu erfüllen.

Weil die in Deutschland fehlen, sollen sie importiert werden. Das ist der harte Kern der humanitär bemäntelten „Flüchtlingspolitik“: eines der vielen falschen Wörter, mit denen in Deutschland Politik gemacht wird. Denn was ist humanitär an einem Verfahren, das den Rentenkassen willige Beitragszahler, den Unternehmern billige Arbeitskräfte und den Parteien neue Mehrheiten zusammenkaufen will? Die Grünen waren doch nur ehrlich, als sie sagten: Wir müssen möglichst viele Ausländer nach Deutschland holen. Wenn sie da sind, müssen wir ihnen das Wahlrecht geben; dann kriegen wir die Mehrheiten, die wir brauchen, um das Land nach unseren Vorstellungen zu verändern.

So sprechen Fachleute, die ihre Interessen im Auge haben, wenn sie von unseren reden. Sie haben kapiert, daß eine Masse von unsicheren, hilfsbedürftigen und abhängigen Menschen leichter zu kommandieren ist als eine Gesellschaft von selbstbewußten Bürgern. Deswegen favorisieren sie den „Flüchtling“, der nichts mitbringt, aber alles erwartet. Er macht das Durchregieren leichter. 






Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der FAZ und Chefkorrespondent der Welt. Adam gründete die Alternative für Deutschland mit und war bis Juli 2015 einer von drei Bundessprechern. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die verweltlichten deutschen Kirchen und den Krieg der Kulturen („Zuckererbsen für jedermann“,       JF 37/17).

Foto: Blick auf einen Ausschnitt statt auf das Ganze: Der Fachmann kennt nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, den aber gründlich. Vom Politiker erwarten wir dagegen mehr; er sollte möglichst viel vor Augen haben, am besten das große Ganze