© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/17 / 08. Dezember 2017

Verführte einer neuen Ordnung
Tarmo Kunnas über die äußerst heterogene Gruppe faschistischer Intellektueller in Europa
Karlheinz Weißmann

In einer Welt, der „Faschismus“ nicht als „Meinung“, sondern als „Verbrechen“ gilt, über den Zusammenhang von Faschismus und Intelligenz zu handeln, ist ein gewagtes Unternehmen. Der finnische Literaturwissenschaftler Tarmo Kunnas hat sich trotzdem darangemacht und fünfzehn Länder Europas und siebzig mehr oder weniger prominente Denker der Zwischenkriegszeit behandelt, die der „faschistischen Versuchung“ ganz oder zum Teil, phasenweise oder bis zum bitteren Ende erlagen. 

Als jemand, der eine vielbeachtete Dissertation über die führenden Köpfe der faschistischen Intelligenz Frankreichs – Pierre Drieu la Rochelle, Louis-Ferdinand Céline und Robert Brasillach – geschrieben hat, ist Kunnas ohne Zweifel ein Kenner der Materie. In seinem neuen Buch geht es allerdings um mehr als einen Ausschnitt. Hier geht es um das größere Ganze, eine Analyse, die keineswegs auf die Hauptakteure Italien und Deutschland oder die wichtigen Staaten des Kontinents beschränkt bleibt, sondern auch kleinere oder weniger bedeutende Länder einbezieht: die nordischen Königreiche und Finnland, Spanien, Irland und Rumänien.

Wenn es schon schwerfällt, dem Begriff „Faschismus“ eine ganz trennscharfe Bedeutung zu geben, dann gilt das erst recht für die „faschistische Intelligenz“. Das Spektrum reichte von eher konventionellen Nationalisten und Imperialisten über alle möglichen Spielarten der „rechten Leute von links“ bis zu Verfechtern ausgesprochen ambitionierter weltanschaulicher Programme. Am einfachsten waren Faschisten, wie Kunnas betont, über ihre gemeinsamen Feinde – den Materialismus, den Liberalismus, den Kommunismus – und ihre gemeinsamen „Helden“ und „Heiligen“ zu definieren. 

Diese trugen zwar von Land zu Land verschiedene Namen, aber ihnen allen war gemeinsam, daß sie als Sinnbilder im Kampf gegen die Dekadenz der westlichen Gesellschaft dienen konnten. Diese Frontstellung gegen das, was man als Verfall der überlieferten Ordnung wahrnahm, erklärt auch die Bedeutung Friedrich Nietzsches für das Denken der faschistischen Intelligenz. Kunnas nennt Nietzsche den „Mystagogen“ der Bewegung. Er meint damit nicht, daß man aus Nietzsches Vorstellungen politische Rezepturen abgeleitet habe, aber daß doch der „aristokratische Radikalismus“ (Georg Brandes) des Philosophen als Hintergrund zu verstehen ist für eine Vorstellungswelt, die der konventionellen christlichen Moral ebenso fremd war wie dem Gleichheitsideal, der Fortschrittsidee ebenso fremd wie dem Positivismus. Nietzsche hatte Zweifel an jeder Art von „Sinn“ genährt, aber gleichzeitig eine neue Art von Idealismus geschaffen, gespeist aus Willen und Lebenskraft.

Kunnas bezweifelt, daß es angemessen ist, diese Geisteshaltung als „irrational“ zu bezeichnen. Zwar gebe es eine scharfe Aufklärungskritik bei den faschistischen Denkern, aber keine prinzipielle Verwerfung der Vernunft. Vielmehr habe sie eine tiefe Skepsis bewegt, angesichts der „zersetzenden“ Wirkung, die der Rationalismus in Europa entfaltete. Die erkläre auch, warum die politischen Systeme Italiens und Deutschlands Anziehungskraft auf jene Gebildeten ausübten, die nach Wegen suchten, um ihre von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krisen geschüttelten Nationen wiederaufzurichten. 

Dabei mußte weder Bewunderung noch Sympathie für Benito Mussolini oder Adolf Hitler im Spiel sein, es genügte schon die Wahrnehmung, daß sie Autorität und Disziplin, Tatbereitschaft und Ordnung hergestellt hatten, um sie als Vorbilder zu betrachten. Mit der Realität des italienischen oder des deutschen Systems hatte das nicht notwendig zu tun. Eher im Gegenteil, die „Distanz zur politischen Praxis“ war bei faschistischen Intellektuellen groß. Im Kern ging es ihnen nur um die Frage, wie das eigene Vaterland zu retten sei. 

Kollaboration war nicht automatisch die Folge

Insofern überrascht es nicht, daß am Beginn des Zweiten Weltkriegs französische, britische und belgische Faschisten zu den Fahnen eilten, obwohl sie die eigenen Eliten verachteten und die feindlichen bewunderten. Umgekehrt bedeutete die Besetzung keineswegs automatische Bereitschaft zur Kollaboration. Die rabiatesten Befürworter der Anpassung an den Sieger kamen eher aus den Reihen der Linken oder der Neophyten, die den Reiz des Faschismus erst in vorletzter Stunde entdeckten. Unterschätzen darf man diese Potenz in keinem Fall, aber sie blieb ohne Wirkung. Kunnas kommt zu dem Urteil, daß man weder in Italien noch in Deutschland fähig gewesen sei, die Möglichkeiten zu nutzen. Veranstaltungen wie die Tagungen der „Europäischen Schriftsteller-Vereinigung“, bei denen ein größerer Teil der faschistischen Intelligenz aus dem deutsch-italienischen Machtbereich zusammenkam, wurden kaum beachtet, und das Bekenntnis zur „Neuen Ordnung“ verhallte ungehört; vor allem bei den Völkern dieses „Großraums“ wie bei Hitler oder Mussolini, die sich für derlei herzlich wenig interessierten.

Die Niederlage der Achsenmächte 1945 hat das, was Kunnas den „gemeineuropäischen Kulturfaschismus“ nennt, erledigt. Seine Träger töteten sich selbst (Drieu la Rochelle) oder wurden getötet (Brasillach) oder eingekerkert (Ezra Pound), blieben auf Dauer verfemt (Knut Hamsun), suchten ihre Spuren zu verwischen (Mircea Eliade) oder leugneten ihr früheres Engagement (Gottfried Benn). 

Auch in der Hinsicht unterscheidet sich diese Formation von ihrem Gegenüber: der kommunistischen Intelligenz. Die war nicht nur eine wesentlich homogenere Größe, sondern auch disziplinierter, skrupelloser und wirksamer. Zu ihren wichtigsten Erfolgen gehörte ohne Zweifel, dem Terminus „faschistisch“ einen Ruch anzuheften, der sich als unaustilgbar erwies, während man der eigenen Option einen bunten Wortmantel umhängte, der je nach Umstand in anderer Farbe schillert: „progressiv“, „demokratisch“, „friedlich“, „sozialistisch“, und selbstverständlich und vor allem: „antifaschistisch“.

Tarmo Kunnas: Faszination eines Trugbildes. Der europäische Intellektuelle und die faschistische Versuchung 1919–1945. Brienna Verlag, Achenmühle 2017, gebunden, 703 Seiten, Abbildungen, 44 Euro