© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Zum Schaden Deutschlands
Eine Vertiefung der Zusammenarbeit in der EU bedeutet nur einen tieferen Griff in unsere Taschen
Bruno Bandulet

Daß Martin Schulz von Freund und Feind sonderlich ernst genommen wird, hat noch niemand behauptet. Ein tiefer Denker ist er nicht, und wenn er Gedachtes referiert, wirkt er geschwätzig. Er gilt als leidenschaftlicher Europäer, wobei nicht klar ist, worauf sich seine Leidenschaft konkret bezieht. Auf dem SPD-Parteitag in der ersten Dezemberwoche forderte er ein Eurozonenbudget und einen Euro-Finanzminister und sprach sich dafür aus, „spätestens“ im Jahr 2025 die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen. EU-Mitglieder, die dann nicht mitmachen wollen, sollen – so stellt Schulz sich das vor – automatisch die EU verlassen.

Ein solcher „demagogischer Hanswurst“ ist Emmanuel Macron mitnichten, auch wenn Frankreichs prominenter Intellektueller Michel Onfray ihn einmal so nannte. Macron ist ein Verwandlungskünstler, dessen Auslassungen zwischen den Zeilen gelesen werden müssen. So auch seine September-Rede, in der er seine ganz große Initiative für ein „souveränes Europa“ vortrug. Eine Rede, die bedenkenswerte Details enthielt, die aber doch den Geist des französischen Konstruktivismus atmete, die für „soziale und steuerliche Konvergenz“ plädierte, die auf mehr EU-Zentralismus und mehr EU-Umverteilung abzielt. Macron hatte den Text vorher mit Angela Merkel abgestimmt. Mit Martin Schulz telefoniert er gelegentlich auch.

Was genau mit solchen Vorstößen gemeint ist, bleibt offen. Das gilt auch für den jüngsten Vorstoß des Kommissionspräsidenten Jean- Claude Juncker. Er möchte den mit 700 Milliarden ausgestatteten Euro-Rettungsschirm ESM in einen „Europäischen Währungsfonds“ umwandeln. Auch der könnte nicht mehr tun, als im Krisenfall Kredite zu vergeben. Nur würden dann nicht mehr die nationalen Regierungen federführend sein, sondern die EU-Kommission könnte vorschlagen, wer wieviel Geld bekommt. Ein kräftiger Machtzuwachs für Brüssel, der praktisch keine Aussicht auf Verwirklichung hat, weil alle Regierungen und Parlamente zustimmen müßten.

Das Problem besteht nicht darin, daß Macron eine europäische Strategie hat, sondern darin, daß Berlin keine hat. Er versucht, die Deutschen vor sich herzutreiben, und dabei käme ihm nichts mehr gelegen als eine Große Koalition unter Merkel. Apropos SPD: Erst im vergangenen März erwärmte sich auch Sigmar Gabriel dafür, den deutschen Steuerzahler zur Ader zu lassen („Wir sollten mehr für Europa zahlen“) und verstieg sich zu der nebulösen Behauptung: „Jeder Euro, den wir also für den EU-Haushalt zur Verfügung stellen, kommt – direkt oder indirekt – mehrfach zu uns zurück.“ Wenn das so wäre, könnte Deutschland den aus der EU gezogenen Nutzen mühelos multiplizieren, wenn nicht wie 2016 netto 13 Milliarden Euro an Brüssel abgeführt werden, sondern ein Mehrfaches davon.

Im übrigen wird Macron in Deutschland mißverstanden. Er ist keineswegs der Meinung, daß Frankreich zum höheren Nutzen Europas französische Souveränität und französische Interessen opfern müsse. In einem immer noch lesenswerten Interview mit dem Spiegel vom 14. Oktober reklamierte Macron für Frankreich die Führungsrolle in der EU, verbunden mit dem dezenten Hinweis, daß Frankreich als Atommacht und als ständiges Mitglied im Uno-Sicherheitsrat eine „besondere Stellung“ innehabe. Beides mit den Deutschen oder den anderen Europäern zu teilen, käme ihm nicht in den Sinn. Europäer zu sein, so Macron, bedeute ja nicht, seine Unabhängigkeit und seine eigene Diplomatie aufzugeben. Und dann ließ er die Katze aus dem Sack: „Deutschland will keine Finanztransfers. Dieses alte Denken aber müssen wir hinter uns lassen.“ Man tut Macron nicht unrecht, wenn man ihm unterstellt, er wolle Deutschlands Finanzkraft anzapfen.

Dabei ist die EU auf dem Weg zur finanziellen Vergemeinschaftung schon längst zu weit gegangen. In einer Studie vom vergangenen September konnte die BayernLB nachweisen, daß sich 2007 sämtliche Transfers und Mechanismen der EU und der Eurozone auf ein potentielles „verdecktes Vergemeinschaftungsvolumen“ in Höhe von 507 Milliarden Euro summierten. Nach letztem Stand sind es 3.800 Milliarden Euro, ein irrwitziger Anstieg von vier auf 25 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt.

Wenn wir auf „Europa“ blicken, sehen wir ein Dickicht von Subventionen und Transfers, die sich heillos überschneiden und die auch der aufmerksamste Zeitungsleser schon lange nicht mehr überschaut. Die Ironie der Geschichte liegt darin, daß sich frühere Gegner des Vertrages von Maastricht, die ja recht behalten haben, jetzt wünschen müssen, daß dieser eigentlich ungute Vertrag endlich ernst genommen wird: daß jedes Euro-Mitglied für die eigenen Schulden haftet, daß die Europäische Zentralbank keine Staaten mehr finanziert, daß die Schuldenobergrenzen eingehalten werden.

Die Europäische Union benötigt keinen „Traum“ und weder eine „Vertiefung“ noch eine Erweiterung der Eurozone, sondern Realismus, Konsolidierung, Rückbesinnung auf ihre Grundregeln und auf das Prinzip der Eigenverantwortung. Was Schulz, Gabriel und Macron vorschwebt, läuft lediglich darauf hinaus, die existierende Verantwortungslosigkeit neu zu organisieren. Nach dem Brexit, den Merkel zum Schaden Deutschlands nicht verhindert hat, und nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland steht die EU am Scheideweg zwischen einer irrationalen Verschärfung des „Weiter so“ und einem Mißbrauch des Euro als Vehikel der Zentralisierung oder aber einer europäischen Renaissance, die auf die Kraft freier Nationen setzt.






Dr. Bruno Bandulet war als Journalist Chef vom Dienst bei der Welt und Vize-Chefredakteur bei der Quick. Im November wurde er mit dem Gerhard-Löwenthal-Ehrenpreis ausgezeichnet.