© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Schlecht für Starke wie für Schwache
Untersuchung: Immer mehr Kinder können nach vier Jahren Grundschule nicht richtig lesen / Einfluß des Elternhauses ist entscheidend
Ronald Berthold

Ist das Glas nun halb voll oder halb leer? Oder verschüttet das deutsche Bildungssystem immer mehr Wasser, das in den Gläsern der anderen Länder landet? Die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) bieten viele Interpretationsmöglichkeiten. Die Studie stellt die Fähigkeiten von Kindern am Ende der vierten Klasse fest, wie diese Texte verschiedener Arten verstehen und nutzen können. Und so gibt es gute, aber wohl noch mehr schlechte Nachrichten. 

Beginnen wir mit der guten: Die Anzahl der leistungsstarken Viertkläßler stieg im Vergleich zur vorigen Untersuchung aus dem Jahr 2011 deutlich an: Waren es damals lediglich 8,6 Prozent, die hervorragende Ergebnisse erreichten, sind es fünf Jahre später 11,1 Prozent – ein Zuwachs um gut ein Drittel.

Deutschland ist ins untere Mittelfeld abgerutscht

Gleichzeitig ging aber auch der Anteil der Kinder, die sogar nach vier Jahren kaum lesen können, nach oben. Inzwischen sind es 18,9 Prozent. Zuletzt waren es zwei Prozentpunkte weniger – ein Anstieg um zwölf Prozent. Der Schlußfolgerung, daß die Kluft zwischen leistungsschwachen und -starken Schülern deutlich größer wird, dürfte auch kein Schönredner widersprechen. Denn im Klartext heißt das: Jeder fünfte Viertkläßler kann altersgerechte Texte nicht verstehen. Für ein Industrieland ist das ein erschreckender Wert. 

Die Zahl der funktionalen Analphabeten, die nicht ins Berufsleben zu integrieren sein werden, dürfte damit weiter steigen. Dadurch, daß sich sowohl die Spitzen- als auch die Tiefstwerte erhöhten, blieb Deutschlands Gesamtpunktzahl fast gleich. Sie sank seit der ersten Teilnahme hiesiger Schüler an der Studie vor 15 Jahren nur leicht von 539 auf 537. Allerdings gab es damals nur vier Länder, die besser als die Bundesrepublik abschnitten. Aktuell sind es 20. Deutschland ist damit ins untere Mittelfeld abgerutscht. Stagnation bedeutet im internationalen Vergleich also Rückschritt, wie die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Susanne Eisenmann (CDU), erkannt hat. Sie ist gleichzeitig Bildungsministerin im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg.

Ob es vor diesem Hintergrund weiterhin sinnvoll ist, leistungsstarke und -schwache Schüler möglichst lange gemeinsam zu unterrichten, sagte die Politikerin nicht. Bei diesen politisch bevorzugten Inklusionsmodellen bleibe weder Zeit, die Besseren angemessen zu fordern noch die Schlechteren zu fördern, meinen Kritiker.

Die Verfasser der Studie haben die Problematik erkannt. Kinder mit Leseschwächen müßten gezielt unterstützt werden. Das dürfe allerdings nicht auf Kosten der leistungsstarken Kinder geschehen, fordern sie. Der Sprachförderung müsse in den Schulen mehr Bedeutung zukommen. Nicht nur in Deutsch, sondern in allen Schulfächern solle sie eine zentrale Rolle spielen. Doch hier beginnt ein neuer Teufelskreis: Fällt ein leseschwacher Schüler nicht dann nicht auch in möglicherweise stärkeren Fächern wie Mathematik und Physik zurück, wenn hier stärker auf Textverständnis gesetzt wird?

Auf all diese Herausforderungen findet die deutsche Bildungspolitik bisher kaum Antworten. Viele Lehrer beklagen, daß statt pragmatischer Lösungen ideologische Ansätze wie Inklusion und jahrgangsübergreifendes Lernen im Vordergrund stünden. Dies werde keinem Kind gerecht.

Um mehr über die Hintergründe der Kinder zu erfahren und die Ergebnisse in gesellschaftliche Zusammenhänge einordnen zu können, arbeiten die IGLU-Forscher mit Fragebögen. Sowohl die Kinder, deren Eltern als auch die Deutsch-Lehrer und Schulleiter müssen sie ausfüllen. Zweck dieser Befragungen, so schreiben die Autoren der Evaluation, sei es, „die Leistungsergebnisse im Zusammenhang mit den teilweise sehr unterschiedlichen sozialen und schulischen Rahmenbedingungen angemessen interpretieren zu können“.

Entscheidend bleibe demnach die soziale Herkunft, also das Elternhaus. „Gemessen an der Anzahl der Bücher im Haushalt und dem Berufsstatus der Eltern gehört Deutschland weiterhin zu den Staaten, in denen die sozialbedingten Leistungsunterschiede am höchsten ausfallen“, schreiben die Verfasser. Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß auch die zunehmende Ganztagsbetreuung der Schüler keine wirkliche Verbesserung der Lage gebracht hat.

Trend wird sich wegen     Zuwanderung fortsetzen

Aufschlußreich ist der im Rahmen der IGLU-Studie festgestellte Migrationshintergrund der getesteten Kinder. Hatten 2001 noch 69,3 Prozent der Viertkläßler keinen ausländischen Elternteil, so sind es inzwischen nur noch 54 Prozent. Der Anteil der etwa zehn- bis elfjährigen Kinder in Deutschland, die ausländische Wurzeln haben, steigt demnach erheblich an. Der Trend wird sich aufgrund der intensiven Zuwanderung und der übrigen demographischen Entwicklung weiter verstärken. Wie sich dies auf die Lesefähigkeit der Viertkläßler auswirkt, wird Deutschland in fünf Jahren erfahren, wenn die Ergebnisse der nächsten IGLU-Untersuchung vorliegen.

Die aktuelle Studie basiert für Deutschland auf einer repräsentativen Stichprobe von rund 4.000 Kindern der vierten Jahrgangsstufe an 200 Grund- und Förderschulen, die nach dem Zufallsprinzip ausgesucht wurden.