© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/17-01/18 22. Dezember / 29. Dezember 2017

Ein Fürsorgesystem am Limit
Kinder- und Jugendhilfe: Eine Milliardenindustrie – angefeuert durch staatliche Finanzierung, aber ohne ausreichende Kontrolle
Verena Rosenkranz

Die Kinder haben ihre Eltern verloren, kommen aus prekären familiären oder sozialen Verhältnissen, sind Gewalt und Verfall in den eigenen vier Wänden ausgesetzt. Oder sie sind männlich, zwischen 16 und 17 Jahre alt und stammen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. 

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in einem Heim leben, steigt seit 2016 massiv an und kletterte im Vorjahr auf ein Rekordhoch. Bereits im Januar 2012 titelte der Münchner Merkur: „Das Jugendamt schlägt Alarm: Die Flut von minderjährigen Flüchtlingen überfordert die wenigen Mitarbeiter. Selbst ‘Kernaufgaben’ zu erfüllen sei kaum mehr möglich“.

Ausländische Minderjährige sprengen den Rahmen  

Hunderte Minderjährige strandeten  jedes Jahr in München. Zwar versuchten die Mitarbeiter des Jugendamts nach Kräften, ihnen zu helfen. Doch gebe es zu wenige Helfer und zu viele Hilfesuchende. Die Zahl der Flüchtlinge sei stetig gestiegen, so die Onlineausgabe des Merkur weiter. Seien im Oktober 2009 noch 525 „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ (UMF) betreut worden, so waren es im Dezember 2011 fast doppelt so viele. Auf 906 „UMF“ kämen gerade mal zehn städtische Pädagogen. Weitere sieben Mitarbeiter seien für die Verwaltung zuständig. Das reiche nicht.

Knapp sechs Jahre später sorgt das Statistische Bundesamt (Destatis) für Schlagzeilen: „Jugendämter leiten immer häufiger Heimerziehung ein“. Für 53.300 Kinder oder Jugendliche in Deutschland hätten diese im Jahr 2016 eine Erziehung in einem Heim oder in einer anderen betreuten Wohnform (Pflegefamilie, Tagesgruppen) eingeleitet. Dies, so Destatis, seien 20 Prozent mehr neue Heimerziehungen als im Vorjahr. Im Vergleich zu 2014 betrage der Zuwachs sogar 50 Prozent. 

Besonders stark sei der Anstieg in der Altersgruppe der männlichen 16- und 17jährigen: Hier habe sich die Zahl der begonnenen Heimerziehungen von 7.000 im Jahr 2014 über 14.400 im Jahr 2015 auf 21.600 mehr als verdreifacht. Damit stellten diese Altersjahrgänge mehr als die Hälfte (57 Prozent) aller begonnenen Hilfen für Jungen und junge Männer. Ein Grund für das Plus, so Destatis,  dürfte die „hohe Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge der letzten Jahre sein“. 

Was eine Einnahmequelle für die Trägerorganisationen darstellt, heißt Vernachlässigung für die vorhandenen Heimkinder und Überforderung für die ohnehin bereits am Limit arbeitenden Betreuer und Jugendamtsmitarbeiter. 

Doch nicht nur ausländische Minderjährige sorgen für steigende Zahlen. In der Angst, zu spät zu handeln und Kinder einer unnötigen Gefahrenlage in Familien auszusetzen, ordneten die Jugendämter so viele Inobhutnahmen wie kaum je zuvor an. Die Ressourcen für Prävention und Arbeit mit den Familien fehlen, betreute Unterbringungsplätze bedeuten zugleich ein Geschäft für die Institutionen. 

Der Markt der „freien Trägervereine“ wächst ständig. Die Nachfrage von seiten des Staates ist da. Heinz Buschkowsky, der ehemalige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, spricht gar von einer Milliardenindustrie, angefeuert durch staatliche Finanzierung, ohne ausreichende Kontrolle. In etlichen Städten gingen involvierte Mitarbeiter deswegen bereits auf die Straße und demonstrierten gegen die Massenunterbringungen. 

Als direkte Antwort auf die Destatis-Zahlen fordert der Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, Wolfgang Stadler, mehr Aufmerksamkeit für die  Heimbetreuung. Kinder und Jugendliche, die nicht bei ihren Eltern leben könnten, brauchten „erheblich mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit, als dies bisher der Fall“ sei. Die nun erneut gestiegene Zahl der Hilfeeinleitungen in solche Wohnformen belege, daß viele Eltern und Alleinerziehende sehr oft mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert seien. Zum anderen werde deutlich, daß die „zu uns geflüchteten unbegleiteten Minderjährigen eine sichere stationäre Betreuung“ benötigten.

„Über dieses wichtige Thema sollte nicht immer erst dann gesprochen werden, wenn Medien von einer schlagzeilenträchtigen und tragischen Kindeswohlgefährdung oder von Heimskandalen berichten“. Daher fordert Stadler mehr finanzielle Mittel und Personal ein.

Während früher noch Beratungen und gemeinsame Problemlösungen möglich waren und sogar im Vordergrund standen, würden die Mitarbeiter heute nur noch Krisenmanagement leisten, erzählt eine junge Angestellte im Interview mit der ARD. Die Angst vor miserablen Zuständen wie im Jahr 2015 in Dithmarschen sei groß. „Isolation, Schläge, Demütigungen“, berichtete die Süddeutsche Zeitung (SZ). In der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung Friesenhof in Schleswig-Holstein sollen Jugendliche mißhandelt worden sein. Der Fall zeige: „Die Betreuung von Minderjährigen aus schwierigen Verhältnissen überfordert viele“. Die SZ zitierte Michael Tüllmann von der Kinder- und Jugendhilfe der Diakonischen Betreuungsstelle „Das Rauhe Haus“ in Hamburg. Demzufolge seien die Jugendlichen, um die es gehe,  oft traumatisiert und bindungslos. Empathie sei ihnen fremd. „Die geschlossene Unterbringung klappt pädagogisch nicht“, unterstrich Tüllmann. „Das ist ein fürchterlicher Teufelskreis.“

Unbegrenztes Wachstum für Sozialeinrichtungen 

Mit den wachsenden Unterbringungszahlen verringern sich sowohl die Möglichkeiten der Betreuer als auch die Wirksamkeit bei den Betroffenen. Obwohl eine schnellstmögliche Unterbringung in einer Pflegefamilie das offiziell erklärte Ziel der unzähligen Kinderheime ist – allein die Arbeitsgemeinschaft Erziehungshilfen Bonn führt für ihren Bereich 26 Betreuungseinrichtungen auf –, scheitert das Vorhaben in vielen Fällen. Entweder an der Unvermittelbarkeit der Schützlinge oder dem Eigeninteresse der Trägervereine. 

Je jünger die Schützlinge bei ihrer Unterbringung in Kinderheimen sind, um so besser stehen die Chancen auf eine Weitervermittlung in eine sorgende Familie, heißt es auf den unzähligen Internetseiten der verschiedenen Institutionen. Ein gravierendes Problem, hält man sich den Altersdurchschnitt der Jugendlichen in den Heimen vor Augen. 

Mehr als die Hälfte aller Untergebrachten sind über 15 Jahre alt, den Großteil machen unbegleitete Minderjährige aus dem Nahen Osten im Alter von 16 bis 18 Jahren aus. Denkbar schlechte Voraussetzungen für die Integration in einen engen Familienverband. Obwohl die Unterbringung in eine Betreuungsanstalt das letzte Mittel der Wahl ist und davor vielerlei soziale Hilfsangebote für Familien und Minderjährige bestehen, bleibt den letztverantwortlichen Ämtern im Fall von ausländischen Jugendlichen ohne Familie vor Ort keine andere Wahl. 

Je nach Art der Unterbringung und Spezialisierung der Heimeinrichtung belaufen sich die Kosten dafür auf rund 10.000 Euro pro Monat. Sozialdienste, welche die Heime betreuen, verdienen derzeit allein an der stationären Unterbringung neun Milliarden Euro. 

Bund, Länder und Gemeinden gaben im Jahr 2005 insgesamt rund 20,7 Milliarden Euro für Kinder- und Jugendhilfe aus. 2015 waren es 40,7 Milliarden. Lediglich das Bayerische Landesamt für Statistik präsentierte bereits die Zahlen für 2016: Demnach wurden in Bayern mehr als 6,7 Milliarden Euro für die Kinder- und Jugendhilfe ausgegeben. Dies entspreche einem Plus von 7,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

 Während im Regelfall bei deutschen Kindern und Jugendlichen die Eltern und Verwandten gesetzlich zu einem gewissen Teil für die Unterbringung aufkommen müssen und der Restbetrag aus staatlichen Mitteln und damit dem Steuertopf berappt wird, greifen die Arme des Fiskus im Fall von Einwandererkindern oft ins Leere. 

Der finanzielle Beitrag der Eltern und Verwandten entfällt, der Staat springt ein und zahlt den Trägervereinen den Gesamtbetrag. Jedes Kind ist demnach ein Gewinn. Ob die Situation auch für vernachlässigte Kinder so gewinnbringend ist, darf laut zahlreichen Ökonomen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) bezweifelt werden. 

Das Problem sei ihnen zufolge, daß nicht nur übergeordnete Behördenvertreter, sondern auch Anbieter sozialer Dienste wie etwa die Diakonie, die Caritas oder die Arbeiterwohlfahrt, entschieden, was zukünftig mit den Kindern passiere. „Freie Träger sind also an Entscheidungen beteiligt, die sie selbst betreffen – sie können dafür sorgen, daß sie selbst Aufträge erhalten“, so das IW. Eine durch das Institut in Auftrag gegebene Studie ergab, daß die hohe Wachstumsrate an Unterbringungen seit 2005 durchaus kritisch zu sehen sei und hinterfragt werden müsse, ob die Betreuung für die Kinder auch tatsächlich zielführend und gut sei. 

Erst vor wenigen Monaten offenbarte eine Recherche des ARD-Magazins „Monitor“ die Tragweite der Unterbringungsindustrie auf dem Rücken von bedürftigen Kindern. Der Leiter des städtischen Jugendamtes von Gelsenkirchen soll demnach vier Jahre lang Kinder aus seiner Heimatgemeinde aufgrund des Platzmangels vor Ort zur Unterbringung nach Ungarn geschickt haben. 

Gegründet wurde die Transferfirma ausgerechnet von ihm und seinen Stellvertretern, pro Kind und Monat seien über diesen Weg 5.500 Euro zu erzielen gewesen. Ein betroffener Jugendlicher, der heute im Allgäu lebt, wurde zwei Jahre lang im ungarischen Pecs untergebracht. Zudem wurde ein elfjähriger Gymnasiast auf dem Bauernhof eines Handwerkers beherbergt und zweimal die Woche für zwei Stunden via Internet unterrichtet. Wer nicht zur Schule wollte, mußte nicht. Oberbürgermeister Frank Baranowski reagierte „fassungslos“ und stellte die Jugendamtsleitung umgehend vom Dienst frei, weitere Fälle werden nun deutschlandweit geprüft.

Dagegen sehen sich die Evangelische Stiftung Overdyck und die Stadt Bochum gewappnet. Vor allem hinsichtlich der Zusammenarbeit bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zogen sie im April eine positive Bilanz. „Wer wann kommt, ist nicht kalkulierbar. Mal sind es mehrere Jugendliche am Tag, mal erscheint eine ganze Woche lang niemand“, erklärte Petra Hiller, Leiterin der Stiftung Overdyck. Im Schnitt träfen 44 UMF pro Monat ein. „Seit Schließung der Balkanroute sind es weniger Syrer und Afghanen und mehr aus Guinea, die vermutlich den Weg über Spanien gewählt haben“, unterstrich Tobias Lenz, Leiter der Fachstelle UMF.