© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/17-01/18 22. Dezember / 29. Dezember 2017

Das große Unbekannte entdecken
Ausblicke auf künftige Herausforderungen der deutschen Meeresforschung / Probleme des Tiefseebergbaus
Christoph Keller

Deutschland, für Im- und Export auf ozeanische Verkehrsnetze angewiesen, verfügt heute nur noch über eine relativ kleine Handelsflotte und muß sich um seemännischen Nachwuchs sorgen. Der Exportweltmeister hat seine Werftindustrie auf einen kümmerlichen Restbestand schrumpfen lassen und wäre mit der kleinsten Kriegsmarine, die je die Bundesflagge führte (JF 47/17), auch nicht fähig, seine Lebensadern nach Übersee zu schützen.

Elisabeth Mann kämpfte für den Schutz der Ozeane

Trotzdem behauptet sich Deutschland in zwei Nischen global als wissenschaftlich-technologisch dominierende „Seemacht“: im Spezialschiffsbau und in der Meeresforschung. Eine glückliche Kombination, wie das dem Meer gewidmete Heft von Forschung & Lehre (11/17), dem Organ des Deutschen Hochschulverbandes, zeigt. Imposant präsentiert sich dort die Flotte der weltweit leistungsfähigsten acht Forschungsschiffe, von der eigens für arktische Unternehmungen konzipierten, 118 Meter langen „Polarstern“ und der gerade erst in Dienst gestellten „Sonne“, die als schwimmendes Labor im Pazifik und im Indischen Ozean zum Einsatz kommt, bis zur halb so großen, vorwiegend in der Ostsee operierenden „Elisabeth Mann Borghese“, benannt nach der jüngsten Tochter Thomas Manns, einer frühen Vorkämpferin für den Schutz der Ozeane.

Derart großzügig ausgestattet, ist die Meeresforschung ein, um im Bild zu bleiben, Leuchtturm des Wissenschaftsstandorts Deutschland geworden. Was Karin Lochte, Bremer Professorin für Biologische Ozeanographie und Direktorin des Alfred-Wegner-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI), jedoch nicht hindert, ihren Interviewer mit der Behauptung zu verblüffen, das Meer sei ihr selbst nach lebenslanger wissenschaftlicher Arbeit „das große Unbekannte“ geblieben. In dieser Absolutheit gelte die Aussage natürlich nicht für den Forschungsschwerpunkt Polarmeere.

In Arktis und Antarktis seien die AWI-Schiffe seit Jahrzehnten unterwegs und haben üppige Datenhalden angehäuft. Auf Spitzbergen messen AWI-Wissenschaftler seit 1993 täglich die Temperatur bis in eine Höhe von 30.000 Metern und geben somit über die Schichtung der Atmosphäre Auskunft. Das Material insgesamt lasse keinen Zweifel: die Winter werden wärmer, weil sich die arktischen Ozeane doppelt so schnell erwärmen wie das globale Mittel.

Deswegen regne es seit langem auf Spitzbergen sehr viel häufiger. Statt Schnee bilde sich Eis. Hingegen setze die Eisbildung für das Meereis infolge wärmerer Winter später ein. Es entstehe weniger und dünneres Meereis. „Wir haben im Arktischen Ozean im Sommer fast fünfzig Prozent weniger Meereis als noch vor dreißig Jahren.“ Ein anderer Effekt, der mit diesen wärmeren Temperaturen einhergehe, seien beschleunigte Schmelzvorgänge auf dem grönländischen Eisschild. Dort gebe es derzeit höhere Verluste als in der Antarktis.

Langfristig würden diese Prozesse den Anstieg des Meeresspiegels bewirken. Auf zweierlei Weise: Erstens dehne sich wärmeres Ozeanwasser stärker aus als kaltes, so daß 50 Prozent der zu erwartenden Meeresspiegelerhöhung von der Ozeanerwärmung herrühre. Zweitens schmelzen die Eisschilde an den Polen und die gewaltigen Gletscher des Himalayas, was gegenwärtig einen Anstieg um 3,4 Millimeter jährlich bedingt. Bis 2117, einen gleichmäßigen Ablauf vorausgesetzt, höbe diese Menge die Meeresspiegel um 34 Zentimeter an, auf ein Niveau, das weit von den bis zu sieben Meter prognostizierenden Horrorszenarien vieler „Klimamodelle“ entfernt ist.

Wenn also Lochte bezüglich der Meereserwärmung glaubt, Aussagen auf mittlerweile empirisch gut abgesichertem Boden wagen zu dürfen, wo beginnt dann das „große Unbekannte“? Bei der Einschätzung der Folgen. Was bedeute der rapide Schwund des Meereises für das arktische Ökosystem, was für das Klima mindestens der Nordhemisphäre? Mit welchen Veränderungen der Wetterbedingungen, der Regenfälle, der Sturmhäufigkeit sei zu rechnen. Welche Richtungen schlagen die Stürme ein, welche Tiefdruckgebiete entwickeln sich? Welche Konsequenzen hat, was in der Arktis geschieht, für Nordeuropa, Nordamerika und Asien?

Potentiale von Wirkstoffen aus Meeresorganismen

Zum großen Unbekannten zählte Lochte auch die Zusammensetzung des Ökosystems Meer. Wir wissen zu wenig darüber, aus welchen Organismen sich das System zusammensetzt. Was bedeuten etwa Windparks für das Ökosystem Nordsee? Auf den Fundamenten der Turbinen könnten sich die Polypen der Quallen niederlassen, was der Nordsee vielleicht eine permanente Quallenplage beschert, mit höchst negativen Beeinträchtigungen für Fischerei und Tourismus.

Überhaupt, so ergänzt Martin Visbeck, Kieler Professor für physikalische Ozeanographie, geben gerade die jüngsten massiven Eingriffe des Menschen der Meeresforschung größte Rätsel auf. Er bezieht sich auf bereits realisierte Offshore-Parks sowie Projekte im Tiefseebergbau. Hier kritisiert er, beim Abbau von Massivsulfiden, der Gewinnung von Metallen aus mineralischen untermeerischen Rohstofflagern im Stillen und Indischen Ozean (JF 41/17) oder der industriellen Förderung weiterer fossiler Energiequellen wie der Methanhydrate, seien erhebliche Störungen der Meeresumwelt unvermeidlich. Wie genau der ökologische Schaden besonders von Ocean-Mining zu gewichten sei und wie man sie rechtlich regulieren solle, müsse „integrative Forschung“ aber erst ermitteln.

Ob ihr dafür ausreichend Zeit bleibt, ist ungewiß, denn die technisch-logistischen Vorbereitungen zur Ausbeutung kommen in Windeseile voran. Das riesige Forschungsfeld zu Wirkstoffen aus Meeresorganismen könnte deshalb, kaum entdeckt, eventuell gar nicht oder nur am Rande betreten werden. Hildegard Westphal und Werner Ekau, tätig am Bremer Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung, halten es bisher für „vollkommen unterwickelt“. Die Suche nach diesen Substanzen drohe schon angesichts massiver Biodiversitätsverluste an Korallenriffen, Mangrovenwäldern und tropischen Seegraswiesen zum Wettlauf mit der Zeit zu werden.

Welche zusätzlichen Artenverluste der Tiefseebergbau bringe, lasse sich kaum ahnen. Für Martin Visbeck ist daher nicht ausgeschlossen, daß die Jagd nach Manganknollen und Kobaltkrusten teuer zu bezahlen wäre, wenn mit diesen beim untermeerischen Bergbau vernichteten Mikroorganismen auch ihr ökonomisch wertvolles Wirkstoffpotential genauso „für immer verschwindet“ wie die Möglichkeit, anhand der Funktionsweisen dieser Organismen wichtige Rückschlüsse auf biogeochemische Vorgänge im Menschen zu ziehen, etwa auf die Evolution und Regulation des Immunsystems.

Alfred-Wegner-Institut: www.awi.de

Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung: www.leibniz-zmt.de

Aktuelle Positionskarten der „Polarstern“: www.meereisportal.de/