© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/17-01/18 22. Dezember / 29. Dezember 2017

Der Flaneur
Gemütliche Dunkelheit
Bernd Rademacher

Das liebe ich an der dunklen Jahreszeit: die hell erleuchteten Fenster in den Straßen. Ich schaue leidenschaftlich gerne in fremde Wohnungen. Die warmen Lichter, die sich von den finsteren Fassaden abheben, strahlen häusliche Behaglichkeit aus. In der großen Altbauwohnung erkennt man aus dem Auto imposanten Stuck unter der Decke, in der Studentenbude sind Filmposter, Ikea-Papierlampen und billige Naturholzregale zu sehen.

Kinderzimmer mit Käpt’n Blaubär und dem Hasen Felix ziehen vorbei. In Praxen ragen die Lampenarme von Zahnarztstühlen in die Höhe. Hinter den Scheiben von Restaurants sitzen meist Paare. Aus einem gekippten Badfenster steigt Duschnebel auf. Die Bürohäuser sind schon dunkel, und die Geschäfte schließen gleich.

Es ist die Zeit für Wild mit dunkler Bratensoße, für Schwarzbier, Rotwein und Zimtgebäck.

Ich mag den Winter: Die kahlen Bäume verbreiten Melancholie. Der weiße Schnee auf Dächern und Bürgersteigen hat etwas Beruhigendes und Samtenes. Außerdem schützen einen die weiten, dicken Mäntel vor dem Anblick scheußlicher Tattoos und prallen Hüftgolds.

Die Giebel heben sich gespenstisch gegen den diffusen Lichtsmog ab, der Rhythmus des Scheibenwischers verbindet sich mit den Reifenspritzern der dreckigen Pfützen zu einer monotonen Melodie. Die roten Rücklichter des Ampelstaus, durch den Schneeregenschleier verschwommen, erinnern an die Grablichter zu Allerseelen.

Es ist die Zeit für Wild mit dunkler Bratensoße, für Schwarzbier, Rotwein und Zimtgebäck. Für Kaminfeuer und alte Schwarzweißfilme. Das ist es: Ich werde mir gleich zu Hause irgendeinen nostalgischen Krimi aus der Nachkriegszeit anschauen – Youtube macht’s möglich. Herrlich, wenn draußen der kalte Wind ums Haus heult. Fehlt nur noch, daß der Regen sich wieder in Schnee verwandelt und dicke Flocken vor meinem Fenster hinunterschweben. Wer dann wohl neugierig von der Straße in mein Fenster schaut?