© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Der Verklärung berauben
Die linke Revolte vor fünfzig Jahren und ihre Folgen: Ein Auszug aus dem Buch „Kulturbruch ’68“
Karlheinz Weißmann

Die radikale Kritik der Verhältnisse, von der Marx sprach, war für die Achtundsechziger ein Kampfmittel. Kritik hieß nicht vernünftige Beurteilung des Geltenden und Klärung, ob es besserungsfähig sei. Kritik hieß prinzipielle Infragestellung der Gesellschaftsordnung und des Privateigentums, der Beziehung zwischen den Geschlechtern wie der zwischen oben und unten, der Selbstdeutung des modernen Menschen und aller Überlieferung. Marx sprach mit Grund von der „Waffe der Kritik“, die der „materiellen Gewalt“ vorarbeite. Die „materielle Gewalt“, das war das brutale und blutige Umstülpen des alten Regimes, das war die Revolution im eigentlichen Sinn. Von kaum etwas wurde ’68 so oft und so begeistert gesprochen wie von der Revolution. Man hat sie beschworen und erfleht, heiß ersehnt und ihr Eintreten zu vorletzt als sicher angenommen. Für die meisten blieb es bei einem etwas diffusen Traumbild, unscharf bis auf die Sicherheit, „daß die Bourgeoisie eins in die Fresse“ bekommen werde, aber hier und da führte man auch Exekutionslisten und erklärte dem einen oder anderen im Vertrauen, daß er „danach“ mit Genickschuß erledigt werde. (…)

’68 ist Geschichte. Was das Damals bestimmte – der Nachkrieg, der Konflikt zwischen Westblock und Ostblock, die Selbstsicherheit des weißen Mannes, der unbestrittene Vorrang der europäischen Hochkultur, die Teilung Deutschlands, die Autorität von Staat und Kirche, die Ordnung der Familie und der Ehe, der Wohlstand für (fast) alle – ist Vergangenheit. Was gerade erst hinzutrat, die Konsumgesellschaft, die Popkultur, die Emanzipation, der Egalitarismus, die Lässigkeit im Hinblick auf Kriminalität und Drogenkonsum und die „Sexuelle Befreiung“ ist zu Alltagsphänomenen geworden. Die großen Utopien, die Verheißung der Selbstverwirklichung einerseits, der universalen Brüderlichkeit andererseits, die Annahme, daß in der Zukunft Herkunft, Religion und Nation keine Rolle mehr spielen würden, erscheinen seltsam unwirklich, obwohl ohne sie die Durchschlagskraft der Bewegung nicht zu erklären ist.

Was die Analyse erschwert, ist die Wirkung von ’68 als Mythos. Das kollektive Gedächtnis kennt keine Einzelheiten mehr, nur noch ein ungeschiedenes Ganzes, das mit bestimmten Bildern, Tönen, Farben verknüpft wird. Wer das Datum ’68 aufruft, sieht Bilder von untergehakten Demonstranten, die lachend im Laufschritt eine Straße entlangstürmen, von Hippies, die finster blickenden Soldaten Blumen überreichen, vom Kommunarden, der, mit langem Haar, Nickelbrille à la John Lennon auf der Nase, leicht bekifft in die Kamera blickt, von der schönen nackten Uschi Obermaier, von Rudi Dutschke, der mit einem Megaphon die Menge zum Aufstand ruft. Man hört die Bürgerrechtler beim Sit-in „We shall over-come“ singen, Joan Baez, die ihre Gitarre umklammert, während sie die amerikanischen Bomben auf Hanoi beklagt, und selbstverständlich Bob Dylan – „die Stimme einer Generation“ – mit „The Times They Are a-Changin’“, sowie die Studenten, die mit verklärtem Blick, die Faust erhoben, die Internationale schmettern. Die Formen des eben noch verpönten Jugendstils hat man wiederentdeckt. Die Farben sind lebhaft, laufen in Wellen zusammen, Orange und Sonnengelb und helles Grün, oft psychedelisch, und selbstverständlich wohin man blickt das Rot der Revolution.

Der Mythos erlaubt Nähe und Distanz gleichermaßen. Er weckt Sympathie, löst aber gleichzeitig die Vorstellung aus, daß das, was damals geschah, mit uns nichts mehr zu tun hat, daß es jedenfalls keiner Klärung bedarf. Also hört man wohlwollend den sentimentalen oder stolzen Geschichten der Dabeigewesenen zu, die es den „Nazis“ und den „alten Säcken“ so richtig gezeigt haben, und hält im übrigen fest, daß sie „Deutschland freier, offener und gerechter machen“ wollten.

Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Denn ein Mythos ist keinesfalls zweckfrei. Er dient der Legitimation, er soll überzeugen, daß etwas richtig ist und etwas falsch. Er liefert eine große Erzählung, die nicht den Verstand, sondern die Emotion anspricht und für eine Sicht der Dinge wirbt. Und diese Sicht ist falsch. Denn ’68 war weder eskalierter Vater-Sohn-Konflikt noch notwendiger Modernisierungsschub, weder berechtigter Aufstand gegen ein „Schweinesystem“ noch der Beginn einer schönen und wilden Zeit, in der alle etwas lockerer wurden. ’68 war vielmehr Ursache jener Formschwäche, unter der die westliche Welt heute leidet, ein Vorgang äußerer und – stärker noch – innerer Zerstörung. Die meisten unserer gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Probleme gehen auf das zurück, was die Achtundsechziger taten oder was sie ihre Erben tun ließen. Die Achtundsechziger haben einen Umsturz gewollt, und sie haben einen Umsturz vollzogen. (…)

Sie haben dafür gesorgt, daß die Welt nie mehr dieselbe sein konnte wie zuvor. ’68 steht für einen Schnitt im Ablauf der Zeit, der ein Zurück unmöglich macht, und das ist es, was eine Revolution im Kern bedeutet.

So von der „Revolution“ sprechen, das heißt auch, sie ihrer romantischen Verklärung zu berauben. Eine Verklärung, die allen negativen Erfahrungen der letzten zweihundertfünfzig Jahre trotzt. Denn auch wer meint, daß Revolutionen gelegentlich notwendig sind, um ein marodes System zu beseitigen, den „Baum der Freiheit […] von Zeit zu Zeit mit dem Blut der Patrioten und der Tyrannen“ zu begießen und den Gang der Dinge zu beschleunigen, muß zugeben, daß sie schwer zu steuern sind, immer Verwerfungen zur Folge haben: Rückgang der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, problematischen Elitenwechsel und mehr oder weniger zahlreiche Todesopfer. In jedem Fall bedeuteten sie einen Bruch mit dem Bisherigen. Und was das angeht, kann man 1968 durchaus in eine Reihe mit 1789, 1917, 1933 stellen. Denn tatsächlich haben die, die zum Sturm auf die bürgerliche Gesellschaft riefen, einen Bruch herbeigeführt. Zwar ist es nicht zur Beseitigung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln gekommen, die Aufhebung der Entfremdung oder der Herrschaft von Menschen über Menschen steht immer noch aus, aber eines ist unbestreitbar die Folge von ’68: Es wurde eine Überlieferung abgeräumt, die bis dahin die Ordnung der euro-päischen Zivilisation bestimmt hatte.

Die Kulturrevolution hat einen Kulturbruch verursacht. Darin liegt die eigentliche Bedeutung der Ereignisse vor fünfzig Jahren. Es ist eine fatale Bedeutung. Schon deshalb wird sie beim offiziellen Gedenken keine Rolle spielen. Da läßt man neben den Veteranen nur Männer und Frauen zu Wort kommen, die ihren Aufstieg und ihren Einfluß und ihre Meinungsmacht der Anpassung an die Gedankenwelt und den Jargon der Achtundsechziger verdanken. Das gilt jedenfalls in Deutschland. Denn obwohl die Bewegung ihren Anfang in den USA nahm und der Pariser Mai so etwas wie ihren symbolischen Höhepunkt markierte und die Heftigkeit der Zusammenstöße an den italienischen Universitäten und in den besetzten Fabriken einen Vergleich mit denen in Frankreich nicht zu scheuen brauchte, waren die Folgen von ’68 nirgends so tiefgreifend wie hier.

Man kann das auf die üble deutsche Neigung zum Konformismus und zum Parieren zurückführen oder auf eine List der Geschichte oder auf einen dialektischen Umschlag der Emanzipationsforderungen oder etwas weitergehen und die destruktive Wirkung der „bösartigen Menschenliebe“ feststellen, die die Überzeugungen der Achtundsechziger von Anfang an bestimmt hat. Der seltsame Begriff stammt von Edmund Burke, dessen Buch über die Französische Revolution, zuerst 1792 erschienen, auch heute noch mit Gewinn zu lesen ist. Burke verstand unter „bösartiger Menschenliebe“ die Neigung aller Linken, im Namen irgendwelcher abstrakten Forderungen nach Weltrepublik und allgemeiner Gleichheit, Menschheitsglück und Tugend Prozesse in Gang zu setzen, die die Lage nicht nur nicht verbessern, sondern verschlechtern. Das, so seine tiefe Überzeugung, habe damit zu tun, daß die Linke eigentlich gar nicht wisse, was die conditio humana bestimme. Sie habe sich etwas ausgedacht und verwechselt dieses Ausgedachte mit dem tatsächlichen, dem konkret vorhandenen Menschen. Deshalb erleidet sie mit ihren Utopien auch immer wieder Schiffbruch und bleibt trotzdem unbeeindruckt. Das heißt, bevor sie ihre Wunschvorstellungen der Realität anpaßt, nutzt sie lieber Gewalt oder Manipulation oder beides, um das gewünschte Ergebnis doch noch zu erreichen. Da das unmöglich ist, müssen Gewalt oder Manipulation oder beides immer weiter gesteigert werden.

Karlheinz Weißmann: Kulturbruch ‘68. Die linke Revolte und ihre Folgen. JF-Edition, Berlin 2017, gebunden, 252 Seiten, 19,90 Euro